Sonntag, 25. Oktober 2009

Wir wollen raus! Fluchtgeschichten -Teil 3 -Flugzeugentführung als letzter Ausweg - das Schicksal des Alexander Tiede


Die Stewardess kauert auf ihren Knien. Tief in ihr langes Haar am Hinterkopf bohrt sich der Lauf einer Pistole. Der Mann über ihr schwitzt. Er schreit auf Polnisch: „Wir landen in Westberlin! Wenn ich Schönefeld sehe, schieße ich!“ Der Flugzeugentführer handelt mechanisch, ihn treibt ein Gedanke: „Nur nicht zurück in die DDR, sonst komme ich in den Knast.“

Bautzen heißt sein Angstwort. Deswegen hält er jetzt die Waffe. Deswegen bringt er die polnische Linienmaschine TU 134 vom Kurs auf die DDR ab. Und deswegen schreibt Alexander Tiede, ein einfacher Kellner aus Ostberlin, ein dramatisches Kapitel in der Geschichte des geteilten Deutschland. Es ist Ende des Sommers 1978, vor genau 30 Jahren. Die Supermächte stehen sich feindlich gegenüber. Kalter Krieg. Deutschland in der Schusslinie. Um Alexander Tiedes Leben hat die DDR Wachtürme, Hunderte Kilometer Stacheldraht und einen Todesstreifen errichtet.Der 33-jährige Kellner will raus. Tunnel wurden gegraben, Menschen in Autos versteckt, andere wagten die Flucht in selbst konstruierten Heißluftballons oder Leichtbauflugzeugen. Aber das, was Alexander Tiede gemacht hat, ist die wohl dreisteste Republikflucht, die je ein DDR-Bürger unternommen hat.

„Welcome to Westberlin“, begrüßen die Amerikaner den Flugzeugentführer nach der Landung in Tempelhof. Militärfahrzeuge haben das Rollfeld umstellt. Tempelhof ist US-Hoheitsgebiet. Alexander Tiede muss die Hände heben. Unter seinem Schnauzer zeichnet sich aber längst ein breites Grinsen ab. Zeige- und Mittelfinger formt er zum Victory-Zeichen. Er ist am Ziel. Auch dem US-Militär ist dieser kleine, drahtige Freiheitsfanatiker auf Anhieb sympathisch. Die Amerikaner bewundern seinen Mut und feiern ihn als Helden, weil er 50 DDR-Bürgern, die am 30. August 1978 an Bord der Tupolew 134 sitzen, die Chance auf Freiheit schenkt. Trotzdem müssen ihm die Amerikaner den Prozess machen. Die Familie Schröder ist Alexander Tiede bis heute dankbar. Mit nichts als ihren zwei kleinen Kindern an der Hand steigen sie aus dem entführten Flugzeug. Freunde, Familie, Arbeit, Möbel, den Trabi — das alles werden sie gegen ein neues Leben in einem unbekannten Land eintauschen.

Heute, 30 Jahre später, spannt sich ein mächtiger Bauch unter Tiedes verblasstem XL-Neonshirt. Doch seine hellen, wachen Augen lassen keinen Zweifel: Der jetzt 63-Jährige ist der verrückte Kerl von damals. Tiede liebt die Heldenpose — und die westlichen Medien lieben ihn. Schließlich kämpft man auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs auch mit psychologischen Waffen. Die DDR-Regierung unter Staatschef Erich Honecker ist empört. Gerade noch feierte sie ihren großen Triumph: Als ersten Deutschen hatte die DDR Sigmund Jähn ins All geschossen. Der Beweis für die Überlegenheit des sozialistischen Systems. Doch der Raketen-Rausch zerplatzt an den Schlagzeilen, die der Flugzeugentführer Tiede produziert. Dass einer freiwillig das „bessere Deutschland“ verlässt, ist unerhört. DDR-Ministerpräsident Willi Stoph verdächtigt öffentlich sogar westdeutsche Geheimdienste, die Flugzeugentführung geplant zu haben. „Nichts da, ich habe es allein getan“, sagt Tiede, „aus Liebe zur Freiheit und zu meinem Sohn.“ Jetzt, wo er nicht mehr arbeitet, träumt er von einer Biografie. Doch kaum einer erinnert sich noch an ihn. Nicht einmal im Berliner Checkpoint-Charlie-Museum, das die Schicksale vieler DDR-Flüchtlinge dokumentiert, hängt sein Bild.

Dabei hat seine Flucht seinerzeit sogar Hollywood inspiriert. „Judgement in Berlin“ heißt der Film von 1988, mit Sean Penn, Martin Sheen und mit Heinz Hoenig in der Rolle des mutigen Flugzeugentführers Tiede.
Der Fall ist pikant. Vor allem juristisch. Lange wälzen Amerikaner und Deutsche die Sache hin und her, bis die Amerikaner im Januar 1979 schließlich einen „United States Court for Berlin“ einsetzen. Es wird der einzige amerikanische Geschworenenprozess, der je auf deutschem Boden stattfindet. Und der einzige, aus dem ein Flugzeugentführer am Ende als freier Mann rausgeht.

Tiedes Geschichte beginnt in Niederschönhausen, dem späteren Ostberlin, wo er zur Schule geht. „Als Kind habe ich mich in der ganzen Stadt bewegt“, erzählt er. Er liefert Kartoffeln in Westberliner Keller. Von dem Geld kauft er sich Brausepulver, später echte Chesterfields, die gab es nur drüben. Aus dem DDR-Rundfunk ist westliche Unterhaltungsmusik schon verbannt. Trotzig hört Tiede weiter dem King of Rock ´n´ Roll zu — auf dem West-Sender Rias. Noch hat niemand die Absicht, eine Mauer zu bauen. Aber 1961 steht sie dann doch. Über Nacht. Tiede ist kein Typ, den man einsperren kann. Nicht in einem Land, nicht in einem Job, nicht in einer Beziehung. Auch jetzt, während er erzählt, sind seine Hände immer in Bewegung. Man kann ihn sich gut vorstellen, wie er als junger Kellner durch den Saal eilte. Hoch nach oben gestemmt, das Tablett mit dem Rotkäppchensekt, manchmal auch mit echtem Schampus. Im „VEB Johannishof“, seinem Ausbildungsbetrieb, verkehrten damals die internationalen Gäste der DDR — westdeutsche Diplomaten und Geschäftsleute mit auserwählten Ost-Promis. „Mich musste keiner mit einem antifaschistischen Schutzwall vor dem Kapitalismus schützen“, sagt er. Diese hohle Parole ärgert ihn noch heute. Wohin er auch blickt, sieht er nur Mangel. Jahrelang wartet er auf einen Trabi, auf eine eigene Wohnung — erst als er 1973 heiratet, bekommen er und seine Frau Maria eine zugewiesen. Doch die Ehe scheitert.

Maria und er streiten immer öfter, schließlich trennen sie sich. Da sie Polin ist, kann sie zwischen Ost- und Westberlin pendeln. Eines Tages kommt sie von einem Ausflug auf den Ku´damm nicht mehr zurück. Den gemeinsamen Sohn John hat sie mitgenommen. Ein erster Fluchtversuch mit gefälschten Papieren, zusammen mit seiner alten Liebschaft Ingrid Ruske und deren zwölfjähriger Tochter Sabine, scheitert. Von Danzig aus wollten sie nach Travemünde ausbüxen, doch der Fluchthelfer mit den Pässen, glaubt Tiede, wurde von der Staatssicherheit geschnappt. Nun sitzt er in der polnischen Hafenstadt Danzig fest. „Mich trieb die pure Angst vorwärts“, sagt er. Weil er nicht mehr weiterweiß, besäuft er sich. Am helllichten Tag. In der schummrigen Danziger Eckkneipe dudelt die Musik der populären polnischen Rockröhre Maryla Rodowicz. Im Rausch kommt ihm dann der wahnsinnige Gedanke. Das Verrückteste, was er je in seinem Leben gemacht hat. Wieder nüchtern, sagt er zu Ingrid: „Ich entführe ein Flugzeug.“ Sie antwortet: „Du spinnst ja!“

Im Danziger Rotlichtmilieu will Tiede von zwielichtigen Gestalten eine Pistole kaufen. Doch ihn treibt die Angst, dass er längst unter Beobachtung der Stasi steht. Am 28. August löst er am Schalter der polnischen Fluggesellschaft LOT die Tickets. Auf dem Schein steht: Abflug: 30. August 1978, Linie: Gdansk (Danzig) – Berlin-Schönefeld. Startzeit: 8.40 Uhr. Tiede fürchtet, die Stasi werde ihm und seiner Freundin Ruske in Berlin einen schönen Empfang bereiten. Diesen Tag, den 30. August 1978, feiern die Schröders noch heute wie einen Geburtstag. 25 Jahre war Constanze Schröder damals alt. Vergangenes Jahr hat sie Tiede nach fast 30 Jahren zum ersten Mal wiedergesehen. Und ihn fest umarmt. „Er war mein Retter“, sagt sie. „Durch ihn bekam meine Familie eine zweite Chance.“ Noch immer lebt sie in Mannheim, an dem Ort, an den es sie nach der unverhofften Flucht verschlagen hat. In der Warteschlange beobachtet Constanze Schröder eine Familie, deren Gepäck als einziges komplett gefilzt wird. Auch sieht sie, wie ein Zollbeamter bei dem Mädchen eine Spielzeugpistole findet. Schließlich winkt er die Kleine durch, scherzt auf Polnisch: „Aber schieß mich nicht tot!“

Vor ihr in der engen Kabine sieht Schröder die Familie wieder. Es sind Tiede, seine Begleiterin und deren Tochter. Sie sitzen in Reihe fünf. Der junge Mann steht oft auf, raucht, trinkt mehrere Cognacs. Als das Bordpersonal etwa 15 Minuten vorher die Landung in Schönefeld ankündigt, stolpert er gekrümmt zur Küchenzeile vor dem Cockpit. Schröder sieht noch Hände, dann fällt der Vorhang zu. „Ich dachte, er sei betrunken und umgekippt.“ Wie Schröder bleiben die 50 anderen Passagiere ahnungslos. Bis zum Schluss. Hinter dem Vorhang bedroht Tiede die Stewardess. Mit einer Spielzeugpistole — eben jener, die der Zollbeamte durchgewinkt hatte. Keiner merkt, dass sie aus billigem Weißblech ist. Die verängstigte Besatzung folgt den Forderungen des Entführers, der polnische Flugkapitän funkt der Flugsicherung: „Er will in Tempelhof landen.“ Für 20 Minuten kreist die Tupolew über Berlin. Erst als Tiede weit unten die bunten Häuser von Tempelhof sieht, ist er siegessicher und steckt sich eine Zigarette in den Mund. Einhändig, die andere hält noch die Waffe.

Heute weiß Tiede, es war Glück, dass er keine echte Pistole zur Hand hatte. Nach der Landung kickt er sie mit dem Fuß die Gangway runter. Als der amerikanische Captain das Spielzeug aufhebt, hält er lachend die Daumen hoch. In der Maschine herrscht Totenstille — bis Tiede, den die Amerikaner wenig später noch einmal reinschicken, schreit: „Wer aussteigen will, kann aussteigen! Sie sind frei!“ Das ist das Signal für Bertram Schröder. Sofort steht er auf. „Mir war absolut klar, dass mein Mann aussteigt“, erinnert sich seine Frau Constanze. Oft hatte er ihr von seinen Fluchtplänen erzählt, ihr war das immer zu gefährlich. Zu ihr sagt er jetzt: „Komm!“ „Also bin ich aufgestanden und habe beide Kinder genommen.“ Constanze Schröder folgt ihrem Mann — und bereut es nie. Der Rest der Insassen quält sich später in der Kantine des Flughafens bei Pommes, Cola und West-Zigaretten mit der Entscheidung.

Außer den Schröders und drei weiteren Passagieren besteigen alle am Abend einen doppelstöckigen Linienbus. Mit einem Umweg über den Ku´damm, vorbei am KaDeWe, der Gedächtniskirche, dem „Café Kranzler“ fährt der Bus in den Ostteil der Stadt. Jeder Passagier könnte zu jeder Zeit den „Bitte halten“-Knopf drücken und aussteigen. Keiner macht es, obwohl im Ostteil der Stadt schon Mielkes Stasi-Truppe zur Vernehmung warte. Er hat alles erreicht. An einem Tag „sein Glück“, wie er sagt, „für den Rest des Lebens ausgereizt“. Tatsächlich bleibt es ihm auch nach der Tat gewogen. Zunächst jedenfalls. Es war Glück, dass er gerade den Amerikanern in die Hände geflogen war. Er weiß das. Bei einer Eisschokolade rekapituliert er seine fast neunmonatige Untersuchungshaft: Was er beschreibt, klingt nach Luxusurlaub. Die ersten fünf Monate davon saß er in Tempelhof ab. „Jeden Mittag habe ich im Knast mit einem anderen Offizier gegessen. So viele T-Bone-Steaks wie noch nie in meinem Leben.“ Während seine amerikanischen Freunde erfolgreich alle Auslieferungsgesuche der DDR abwehren, geht er auf dem Flugfeld joggen.

Die gerichtliche Behandlung der Tiede-Flucht indes wird delikat. Die USA hatten gerade ein internationales Abkommen gegen Luftpiraterie unterschrieben. Eine Reaktion auf die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ nach Mogadischu ein Jahr zuvor. Die Amerikaner müssen ihrem sympathischen Flugzeugentführer den Prozess machen. Für 100000 D-Mark bauen sie ihm im Flughafengebäude Tempelhof einen amerikanischen Gerichtssaal. Verhandelt wird nach US-Verfahrensvorschriften, weswegen die Amerikaner aus 500 Berlinern zwölf Geschworene wählen. Die Stasi kann einen ihrer Agenten einschleusen. Als einziger Geschworener plädiert der auf „schuldig“. Der aus New Jersey eingeflogene Richter Herbert J. Stern verurteilt Tiede wegen Geiselnahme. Doch die Strafe ist mit der Untersuchungshaft bereits abgegolten.

Als Tiede im Mai 1979 in die Freiheit entlassen wird, fängt er bei null an. Er ist kein Typ, dem so etwas Angst macht. Zu viel hat er in der letzten Zeit durchgemacht. Nur anfangs quälen ihn nachts Albträume. „Ich träumte oft, dass die Stasi mich in den Osten entführt.“ Trotzdem bleibt er in Westberlin wohnen. Er versöhnt sich mit seiner Ex-Frau, aber wieder hält es nur kurz. Die Beziehung zu seinem Sohn gestaltet sich schwierig. Er jobbt erneut als Kellner, das Geld bleibt knapp. Der goldene Westen kennt eben neue, andere Grenzen, die sich nicht einfach überfliegen lassen. Dafür kann Tiede jetzt reisen. Anfangs laden ihn seine amerikanischen Freunde oft zu sich ein. In Iowa wollen sie ihn sogar einmal verheiraten. Amerika aber ist ihm viel zu weit weg. „Mein Ziel hieß immer nur Westberlin“, sagt er. „Mehr wollte ich auch damals nicht.“

Quelle: focus.online


1 Kommentar:

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