Freitag, 2. Oktober 2009

Zwangsadoption in der DDR - Kidnapping per Gesetz


Zwei Jahre nach dem Fall der Mauer kommt eines der dunkelsten Kapitel der DDR-Geschichte ans Licht. In Zeitungspapier eingewickelte Schriftstücke aus den Archivkellern des Bezirksamtes Berlin-Mitte beweisen, was Ost- und Westpolitiker jahrelang geleugnet hatten: In der DDR wurden Kinder auf Veranlassung des Staates, ohne Einwilligung der leiblichen Eltern, zwangsadoptiert.

Das Thema war keinesfalls neu. Bereits 1975 berichtete der „Spiegel“ über die Praxis der gewaltsamen Familientrennung „Wegen Republikflucht Verurteilter und von der Bundesrepublik freigekaufter Eltern“. Die Veröffentlichung führte zu einem Eklat, der die innerdeutschen Beziehungen schwer belastete. Der Spiegel-Korrespondent in Ost-Berlin wurde ausgewiesen, der ständige Vertreter der DDR in Bonn kurzfristig vor seinem Antrittsbesuch ausgeladen. Helmut Schmidt sah die Unterzeichnung des Verkehrsabkommens mit der DDR schwinden, die DDR sprach von einer „groß angelegten Hetzkampagne“.

Die 16 Jahre später in Berlin gefundenen Aktenordner belegen detaillierte Schicksale. In mehreren Fällen wurde von 1961 bis1989 Eltern aus politischen Gründen, meist unter dem Vorwurf der Republikflucht oder der Spionage, das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen. Hauptverantwortlich: die damalige Ministerin für Volksbildung Margot Honecker. In der DDR eine mächtige Frau. Das musste auch Petra Köhler erfahren.

Mit den Lebensumständen in der DDR unzufrieden, rebelliert sie, versucht, die DDR auf legalem Weg zu verlassen, stellt mehrere Ausreiseanträge. Und gerät dadurch ins Visier des Staatssicherheitsdienstes. Petra Köhler wird mehrfach vorgeladen, soll die Antragsstellung unterlassen. Belehrungen . Drohungen. Die Stasi weist der jungen Mutter eine Altbauwohnung zu, ohne Bad, an den Wänden wächst der Schimmel. Als sie sich beschwert und den Gang an die Wahlurne verweigert , lernt sie eine der perfiden Stasimethoden, die so genannte “Assi-FalleStufe 1“, kennen: Ihr werden alle Rechte der DDR aberkannt, sie verliert ihren Job und darf nur noch das machen, was die Abteilung Inneres des Kreises Gera ihr zuweist. In ihrem Fall: Kartons kleben.

Die „Assi-Falle“ ist auch für Uwe Hilmer von der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstrasse kein Fremdwort: „Das viel gerühmte Recht auf Arbeit hatte auch eine dunkle Seite die Verpflichtung zur Arbeit. Wenn jemand aus seinem Beruf entfernt wurde, dann war es für ihn wichtig, dass er so schnell wie möglich wieder Arbeit fand. Ansonsten hätte unterstellt werden können, dass er asozial lebte. Und Asoziale hatten natürlich auch das Recht zur Erziehung ihrer Kinder verwirkt. War es so weit, begannen die Mühlen des Apparates zu mahlen.“

Im Fall Petra Köhler mahlen sie besonders gründlich. Da sie sich gegen die „Diktatur des Proletariats“ wehrt, greift Stufe II der “Assi-Falle“. Im Februar 1981 wird ihr, veranlasst durch den Staat, in der Kinderkrippe Gera ihr Sohn weggenommen. Über die Mauer der Krippe hinwegversucht sie Kontakt mit Enrico aufzunehmen. Eine Kindergärtnerin entdeckt sie, informiert die Stasi. „15 Minuten späterhaben sie mich geholt.“ Die 21-Jährige kommt ins Geraer Stasigefängnis. Man verbietet ihr, sich noch einmal in die Nähe der Kindereinrichtung zu begeben, man droht mit Gefängnis, schlägt und tritt sie, auch in den Unterleib. „Das Kinderkriegenwürden sie mir austreiben, haben sie gesagt.“ Als Petra 1984 ihren zweiten Sohn Sven bekommt, erscheinen zwei Stasibeamte auf der Entbindungsstation. Sie sprechen eine deutliche Drohung aus: “Wenn ich mich dem Staat nicht beugen würde, dann sei er der Nächste.“

Aus Angst, auch ihren zweiten Sohn zu verlieren, zieht sie sich zurück. Sie verhält sich still, bekommt im Laufe der Jahre noch zwei Mädchen, Jeanette und Jaris. Enrico sieht sie nie wieder. Kein Fluchtversuch, kein illegaler Grenzübertritt. „im Gegensatz zu vielen anderen hatte sie lediglich versucht, die DDR auf legalem Weg zu verlassen“ . Der Fall von Petra Köhler ist keine Ausnahme. „Mir persönlich sind mehrere Fälle bekannt“, bestätigt Uwe Hilmer. “Ich glaube, ich begebe mich nicht auf unsicheres Gebiet, wenn ich sage, dass es wohl einige hundert Fälle gewesen sind.“
Anfang der 90er Jahre wird in Berlin eine Clearingstelle eingerichtet, um diese Adoptionsfälle zu überprüfen. Anlaufstelle auch für Petra Köhler. Nach der Wende nimmt sie die Suche nach ihrem Sohn wieder auf. Doch sie kommt nichtweit. Auf dem Jugendamt Gera arbeitet noch dieselbe Mitarbeiterin wie zu DDR-Zeiten.“ Dahin bin ich dann nicht mehr gegangen, weil die Frau, die in die Adoptionssache verwickelt war, dort noch gearbeitet hat. Da hätte ich mich nicht unter Kontrolle gehabt. Die hatte mir mein Kind weggenommen!“

2003 ist die Betreffende nicht mehr im Jugendamt tätig. Jetzt leitet Petra Köhler erneut die Suche nach Sohn Enrico ein. In einem Brief schreibt sie ihm, dass sie seine leibliche Mutter sei. Nach geltendem Adoptionsrecht darf sie nicht in direkten Kontakt mit ihm treten, das Jugendamt soll den Brief weiterleiten. Doch der größte Schock steht noch bevor. Petra Köhler soll schriftlich in die Adoption ihres Kindes eingewilligt haben. „Im Gefängnis haben sie mir Tablettengegeben. Mir fehlen einige Stunden eines Lebens „.“ Sie beantragt Akteneinsicht. Und tatsächlich wird Petra Köhler die Einwilligung in die Adoption vorgelegt. Unterschrieben mit ihrem Mädchennamen Hartmann. „Man hatte mir mal im Gefängnis mehrere Dokumente übern Tisch geschoben, aber die hab ich nicht unterschrieben, das weiß ich ganzgenau.“

Für Hilmer ist es durchaus denkbar, dass Dokumente gefälscht wurden. „Andererseits besteht aber auch die Möglichkeit, dass man sie in eine Situation gebracht hat, in der sie keine andere Möglichkeit mehr gesehen hat als zu unterzeichnen, um dieser Situation zu entkommen.“

Erst vor einigen Monaten erfährt Petra Köhler, warum ihr das Kind weggenommen wurde. Ausreiseanträge an sich waren nicht strafbar. Stattdessen wird ihr alles, was sie selbst kritisiert hatte, als Schuld angelastet. Ihre damalige schimmlige Wohnung, die der Staat ihr zugeteilt hatte, ihre Arbeitslosigkeit, nachdem der Staat ihr den Beruf aberkannt hatte.“Asozial“ lautete der Vorwurf, der dem Staat das Recht einräumte, auf Paragraph 249 des Strafgesetzbuchs zurückzugreifen: legitimierter Kindesentzug.

Wochen später hatte das Jugendamt den Brief an Enrico noch immer nicht weitergeleitet. Nur die Adoptionsakte liegt ihr nun als Kopie vor.
Schlüsselfigur in Sachen Zwangsadoption war Margot Honecker. Doch direkte Anweisungen von ihr an die Jugendhilfenlassen sich nicht nachweisen. Unbehelligt reist sie 1992 nach Chile aus. Auch der Leiter der Jugendhilfe im Volksbildungsministerium, Eberhard Mannschatz, ist zu keiner Stellungnahme bereit. Er erklärt lediglich: Zwangsadoptionen habe es in der DDR nicht gegeben.

Keiner der Verantwortlichen wird nach der Wende vor Gericht gestellt. Im Einigungsvertrag ist das DDR-Recht anerkannt worden, die Täter haben demnach keine Gesetze gebrochen. Mit Ausnahme der Todesschüsse an der Mauer. Sie werden als schwere Menschenrechtsverletzung gewertet. Zwangsadoptionen nicht. Laut gültigem BGB ist auch heutenoch die Entziehung des Sorgerechts bei “staatsfeindlicher Beeinflussung“ möglich. Bisher gibt es aber kein einziges Urteil, das ein Kind aus diesen Gründen in öffentliche Obhut brachte.

Enrico heißt jetzt Florian, ist in Sachsen aufgewachsen und lebt jetzt in Bayern. Nach 22 Jahren haben sich Mutter und Sohn, nachdem ihr Brief endlich weitergeleitet wurde, bisher erst zweimal gesehen. Das Zusammenwachsen ist schwierig. Die DDR hat sie getrennt. Petra Köhler ist heute Mutter von vier Kindern und lebt in der Nähe von Leipzig.


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