Sonntag, 25. Oktober 2009

Wir wollen raus! Fluchtgeschichten -Teil 3 -Flugzeugentführung als letzter Ausweg - das Schicksal des Alexander Tiede


Die Stewardess kauert auf ihren Knien. Tief in ihr langes Haar am Hinterkopf bohrt sich der Lauf einer Pistole. Der Mann über ihr schwitzt. Er schreit auf Polnisch: „Wir landen in Westberlin! Wenn ich Schönefeld sehe, schieße ich!“ Der Flugzeugentführer handelt mechanisch, ihn treibt ein Gedanke: „Nur nicht zurück in die DDR, sonst komme ich in den Knast.“

Bautzen heißt sein Angstwort. Deswegen hält er jetzt die Waffe. Deswegen bringt er die polnische Linienmaschine TU 134 vom Kurs auf die DDR ab. Und deswegen schreibt Alexander Tiede, ein einfacher Kellner aus Ostberlin, ein dramatisches Kapitel in der Geschichte des geteilten Deutschland. Es ist Ende des Sommers 1978, vor genau 30 Jahren. Die Supermächte stehen sich feindlich gegenüber. Kalter Krieg. Deutschland in der Schusslinie. Um Alexander Tiedes Leben hat die DDR Wachtürme, Hunderte Kilometer Stacheldraht und einen Todesstreifen errichtet.Der 33-jährige Kellner will raus. Tunnel wurden gegraben, Menschen in Autos versteckt, andere wagten die Flucht in selbst konstruierten Heißluftballons oder Leichtbauflugzeugen. Aber das, was Alexander Tiede gemacht hat, ist die wohl dreisteste Republikflucht, die je ein DDR-Bürger unternommen hat.

„Welcome to Westberlin“, begrüßen die Amerikaner den Flugzeugentführer nach der Landung in Tempelhof. Militärfahrzeuge haben das Rollfeld umstellt. Tempelhof ist US-Hoheitsgebiet. Alexander Tiede muss die Hände heben. Unter seinem Schnauzer zeichnet sich aber längst ein breites Grinsen ab. Zeige- und Mittelfinger formt er zum Victory-Zeichen. Er ist am Ziel. Auch dem US-Militär ist dieser kleine, drahtige Freiheitsfanatiker auf Anhieb sympathisch. Die Amerikaner bewundern seinen Mut und feiern ihn als Helden, weil er 50 DDR-Bürgern, die am 30. August 1978 an Bord der Tupolew 134 sitzen, die Chance auf Freiheit schenkt. Trotzdem müssen ihm die Amerikaner den Prozess machen. Die Familie Schröder ist Alexander Tiede bis heute dankbar. Mit nichts als ihren zwei kleinen Kindern an der Hand steigen sie aus dem entführten Flugzeug. Freunde, Familie, Arbeit, Möbel, den Trabi — das alles werden sie gegen ein neues Leben in einem unbekannten Land eintauschen.

Heute, 30 Jahre später, spannt sich ein mächtiger Bauch unter Tiedes verblasstem XL-Neonshirt. Doch seine hellen, wachen Augen lassen keinen Zweifel: Der jetzt 63-Jährige ist der verrückte Kerl von damals. Tiede liebt die Heldenpose — und die westlichen Medien lieben ihn. Schließlich kämpft man auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs auch mit psychologischen Waffen. Die DDR-Regierung unter Staatschef Erich Honecker ist empört. Gerade noch feierte sie ihren großen Triumph: Als ersten Deutschen hatte die DDR Sigmund Jähn ins All geschossen. Der Beweis für die Überlegenheit des sozialistischen Systems. Doch der Raketen-Rausch zerplatzt an den Schlagzeilen, die der Flugzeugentführer Tiede produziert. Dass einer freiwillig das „bessere Deutschland“ verlässt, ist unerhört. DDR-Ministerpräsident Willi Stoph verdächtigt öffentlich sogar westdeutsche Geheimdienste, die Flugzeugentführung geplant zu haben. „Nichts da, ich habe es allein getan“, sagt Tiede, „aus Liebe zur Freiheit und zu meinem Sohn.“ Jetzt, wo er nicht mehr arbeitet, träumt er von einer Biografie. Doch kaum einer erinnert sich noch an ihn. Nicht einmal im Berliner Checkpoint-Charlie-Museum, das die Schicksale vieler DDR-Flüchtlinge dokumentiert, hängt sein Bild.

Dabei hat seine Flucht seinerzeit sogar Hollywood inspiriert. „Judgement in Berlin“ heißt der Film von 1988, mit Sean Penn, Martin Sheen und mit Heinz Hoenig in der Rolle des mutigen Flugzeugentführers Tiede.
Der Fall ist pikant. Vor allem juristisch. Lange wälzen Amerikaner und Deutsche die Sache hin und her, bis die Amerikaner im Januar 1979 schließlich einen „United States Court for Berlin“ einsetzen. Es wird der einzige amerikanische Geschworenenprozess, der je auf deutschem Boden stattfindet. Und der einzige, aus dem ein Flugzeugentführer am Ende als freier Mann rausgeht.

Tiedes Geschichte beginnt in Niederschönhausen, dem späteren Ostberlin, wo er zur Schule geht. „Als Kind habe ich mich in der ganzen Stadt bewegt“, erzählt er. Er liefert Kartoffeln in Westberliner Keller. Von dem Geld kauft er sich Brausepulver, später echte Chesterfields, die gab es nur drüben. Aus dem DDR-Rundfunk ist westliche Unterhaltungsmusik schon verbannt. Trotzig hört Tiede weiter dem King of Rock ´n´ Roll zu — auf dem West-Sender Rias. Noch hat niemand die Absicht, eine Mauer zu bauen. Aber 1961 steht sie dann doch. Über Nacht. Tiede ist kein Typ, den man einsperren kann. Nicht in einem Land, nicht in einem Job, nicht in einer Beziehung. Auch jetzt, während er erzählt, sind seine Hände immer in Bewegung. Man kann ihn sich gut vorstellen, wie er als junger Kellner durch den Saal eilte. Hoch nach oben gestemmt, das Tablett mit dem Rotkäppchensekt, manchmal auch mit echtem Schampus. Im „VEB Johannishof“, seinem Ausbildungsbetrieb, verkehrten damals die internationalen Gäste der DDR — westdeutsche Diplomaten und Geschäftsleute mit auserwählten Ost-Promis. „Mich musste keiner mit einem antifaschistischen Schutzwall vor dem Kapitalismus schützen“, sagt er. Diese hohle Parole ärgert ihn noch heute. Wohin er auch blickt, sieht er nur Mangel. Jahrelang wartet er auf einen Trabi, auf eine eigene Wohnung — erst als er 1973 heiratet, bekommen er und seine Frau Maria eine zugewiesen. Doch die Ehe scheitert.

Maria und er streiten immer öfter, schließlich trennen sie sich. Da sie Polin ist, kann sie zwischen Ost- und Westberlin pendeln. Eines Tages kommt sie von einem Ausflug auf den Ku´damm nicht mehr zurück. Den gemeinsamen Sohn John hat sie mitgenommen. Ein erster Fluchtversuch mit gefälschten Papieren, zusammen mit seiner alten Liebschaft Ingrid Ruske und deren zwölfjähriger Tochter Sabine, scheitert. Von Danzig aus wollten sie nach Travemünde ausbüxen, doch der Fluchthelfer mit den Pässen, glaubt Tiede, wurde von der Staatssicherheit geschnappt. Nun sitzt er in der polnischen Hafenstadt Danzig fest. „Mich trieb die pure Angst vorwärts“, sagt er. Weil er nicht mehr weiterweiß, besäuft er sich. Am helllichten Tag. In der schummrigen Danziger Eckkneipe dudelt die Musik der populären polnischen Rockröhre Maryla Rodowicz. Im Rausch kommt ihm dann der wahnsinnige Gedanke. Das Verrückteste, was er je in seinem Leben gemacht hat. Wieder nüchtern, sagt er zu Ingrid: „Ich entführe ein Flugzeug.“ Sie antwortet: „Du spinnst ja!“

Im Danziger Rotlichtmilieu will Tiede von zwielichtigen Gestalten eine Pistole kaufen. Doch ihn treibt die Angst, dass er längst unter Beobachtung der Stasi steht. Am 28. August löst er am Schalter der polnischen Fluggesellschaft LOT die Tickets. Auf dem Schein steht: Abflug: 30. August 1978, Linie: Gdansk (Danzig) – Berlin-Schönefeld. Startzeit: 8.40 Uhr. Tiede fürchtet, die Stasi werde ihm und seiner Freundin Ruske in Berlin einen schönen Empfang bereiten. Diesen Tag, den 30. August 1978, feiern die Schröders noch heute wie einen Geburtstag. 25 Jahre war Constanze Schröder damals alt. Vergangenes Jahr hat sie Tiede nach fast 30 Jahren zum ersten Mal wiedergesehen. Und ihn fest umarmt. „Er war mein Retter“, sagt sie. „Durch ihn bekam meine Familie eine zweite Chance.“ Noch immer lebt sie in Mannheim, an dem Ort, an den es sie nach der unverhofften Flucht verschlagen hat. In der Warteschlange beobachtet Constanze Schröder eine Familie, deren Gepäck als einziges komplett gefilzt wird. Auch sieht sie, wie ein Zollbeamter bei dem Mädchen eine Spielzeugpistole findet. Schließlich winkt er die Kleine durch, scherzt auf Polnisch: „Aber schieß mich nicht tot!“

Vor ihr in der engen Kabine sieht Schröder die Familie wieder. Es sind Tiede, seine Begleiterin und deren Tochter. Sie sitzen in Reihe fünf. Der junge Mann steht oft auf, raucht, trinkt mehrere Cognacs. Als das Bordpersonal etwa 15 Minuten vorher die Landung in Schönefeld ankündigt, stolpert er gekrümmt zur Küchenzeile vor dem Cockpit. Schröder sieht noch Hände, dann fällt der Vorhang zu. „Ich dachte, er sei betrunken und umgekippt.“ Wie Schröder bleiben die 50 anderen Passagiere ahnungslos. Bis zum Schluss. Hinter dem Vorhang bedroht Tiede die Stewardess. Mit einer Spielzeugpistole — eben jener, die der Zollbeamte durchgewinkt hatte. Keiner merkt, dass sie aus billigem Weißblech ist. Die verängstigte Besatzung folgt den Forderungen des Entführers, der polnische Flugkapitän funkt der Flugsicherung: „Er will in Tempelhof landen.“ Für 20 Minuten kreist die Tupolew über Berlin. Erst als Tiede weit unten die bunten Häuser von Tempelhof sieht, ist er siegessicher und steckt sich eine Zigarette in den Mund. Einhändig, die andere hält noch die Waffe.

Heute weiß Tiede, es war Glück, dass er keine echte Pistole zur Hand hatte. Nach der Landung kickt er sie mit dem Fuß die Gangway runter. Als der amerikanische Captain das Spielzeug aufhebt, hält er lachend die Daumen hoch. In der Maschine herrscht Totenstille — bis Tiede, den die Amerikaner wenig später noch einmal reinschicken, schreit: „Wer aussteigen will, kann aussteigen! Sie sind frei!“ Das ist das Signal für Bertram Schröder. Sofort steht er auf. „Mir war absolut klar, dass mein Mann aussteigt“, erinnert sich seine Frau Constanze. Oft hatte er ihr von seinen Fluchtplänen erzählt, ihr war das immer zu gefährlich. Zu ihr sagt er jetzt: „Komm!“ „Also bin ich aufgestanden und habe beide Kinder genommen.“ Constanze Schröder folgt ihrem Mann — und bereut es nie. Der Rest der Insassen quält sich später in der Kantine des Flughafens bei Pommes, Cola und West-Zigaretten mit der Entscheidung.

Außer den Schröders und drei weiteren Passagieren besteigen alle am Abend einen doppelstöckigen Linienbus. Mit einem Umweg über den Ku´damm, vorbei am KaDeWe, der Gedächtniskirche, dem „Café Kranzler“ fährt der Bus in den Ostteil der Stadt. Jeder Passagier könnte zu jeder Zeit den „Bitte halten“-Knopf drücken und aussteigen. Keiner macht es, obwohl im Ostteil der Stadt schon Mielkes Stasi-Truppe zur Vernehmung warte. Er hat alles erreicht. An einem Tag „sein Glück“, wie er sagt, „für den Rest des Lebens ausgereizt“. Tatsächlich bleibt es ihm auch nach der Tat gewogen. Zunächst jedenfalls. Es war Glück, dass er gerade den Amerikanern in die Hände geflogen war. Er weiß das. Bei einer Eisschokolade rekapituliert er seine fast neunmonatige Untersuchungshaft: Was er beschreibt, klingt nach Luxusurlaub. Die ersten fünf Monate davon saß er in Tempelhof ab. „Jeden Mittag habe ich im Knast mit einem anderen Offizier gegessen. So viele T-Bone-Steaks wie noch nie in meinem Leben.“ Während seine amerikanischen Freunde erfolgreich alle Auslieferungsgesuche der DDR abwehren, geht er auf dem Flugfeld joggen.

Die gerichtliche Behandlung der Tiede-Flucht indes wird delikat. Die USA hatten gerade ein internationales Abkommen gegen Luftpiraterie unterschrieben. Eine Reaktion auf die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ nach Mogadischu ein Jahr zuvor. Die Amerikaner müssen ihrem sympathischen Flugzeugentführer den Prozess machen. Für 100000 D-Mark bauen sie ihm im Flughafengebäude Tempelhof einen amerikanischen Gerichtssaal. Verhandelt wird nach US-Verfahrensvorschriften, weswegen die Amerikaner aus 500 Berlinern zwölf Geschworene wählen. Die Stasi kann einen ihrer Agenten einschleusen. Als einziger Geschworener plädiert der auf „schuldig“. Der aus New Jersey eingeflogene Richter Herbert J. Stern verurteilt Tiede wegen Geiselnahme. Doch die Strafe ist mit der Untersuchungshaft bereits abgegolten.

Als Tiede im Mai 1979 in die Freiheit entlassen wird, fängt er bei null an. Er ist kein Typ, dem so etwas Angst macht. Zu viel hat er in der letzten Zeit durchgemacht. Nur anfangs quälen ihn nachts Albträume. „Ich träumte oft, dass die Stasi mich in den Osten entführt.“ Trotzdem bleibt er in Westberlin wohnen. Er versöhnt sich mit seiner Ex-Frau, aber wieder hält es nur kurz. Die Beziehung zu seinem Sohn gestaltet sich schwierig. Er jobbt erneut als Kellner, das Geld bleibt knapp. Der goldene Westen kennt eben neue, andere Grenzen, die sich nicht einfach überfliegen lassen. Dafür kann Tiede jetzt reisen. Anfangs laden ihn seine amerikanischen Freunde oft zu sich ein. In Iowa wollen sie ihn sogar einmal verheiraten. Amerika aber ist ihm viel zu weit weg. „Mein Ziel hieß immer nur Westberlin“, sagt er. „Mehr wollte ich auch damals nicht.“

Quelle: focus.online


Wir wollen raus! - Fluchtgeschichten -Teil 2- Schwimmend in die Freiheit - Mario Wächter


Mehr als 5000 DDR-Bürger wagten nach dem Mauerbau einen Fluchtversuch über die Ostsee, für 174 endete er tödlich. Mit seiner Flucht am 2. September 1989 war Mario Wächter wohl der letzte, der die DDR auf dem Meer verließ.

Mario Wächtlers erster Blick auf die lang ersehnte Freiheit war durch Milchglas getrübt. Er lag in einem Krankenwagen in Travemünde bei Lübeck. Ein quälender Weg hatte ihn dorthin geführt. Wächtler war von der DDR durch die Ostsee in den Westen geschwommen. Mit seiner Flucht am 2. September 1989 war er nach heutigem Wissensstand wohl der letzte, der den Eisernen Vorhang auf dem Meer durchbrach. In 19 Stunden legte er 38 Kilometer zurück, bevor ihn eine Fähre kurz vor Travemünde aus dem Wasser fischte.

"Anfang September 1989 war von der bevorstehenden Wende noch nichts zu spüren", sagt Wächtler im Rückblick. Eigentlich ging es ihm ganz gut in der DDR, doch der damals 24 Jahre alte Automechaniker erhoffte sich mehr vom Leben. "Ich hatte zwar genug Geld, aber man hat ja für sein Geld nichts bekommen. Außerdem wollte ich reisen, wohin ich wollte und nicht nur in die sozialistischen Staaten." Also fasst er den Entschluss, aus der DDR zu fliehen. Der damals von vielen eingeschlagene Weg via Ungarn oder die Prager Botschaft der Bundesrepublik ist ihm zu gefährlich, da er Grenzen überqueren müsste. Die Ostsee erscheint ihm da als der leichtere Weg. "Im Urlaub in Mecklenburg habe ich die Häuser am Timmendorfer Strand in Schleswig-Holstein gesehen, die zum Greifen nahe schienen."

Also macht er sich am 2. September von Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, mit seinem Trabant auf den Weg in Richtung Küste. Westlich von Wismar zieht er einen Neoprenanzug an und steigt um 23 Uhr ins Wasser. Als es hell wird, schwimmt er immer noch, er fühlt sich gut. "Die Entfernung hatte ich in etwa richtig eingeschätzt, allerdings hätte ich nicht gedacht, dass ich so lange brauche", sagt Wächtler. Mit Tagesanbruch wächst die Gefahr, von den DDR-Grenzschützern entdeckt zu werden. Tatsächlich passieren ihn zwei Patrouillenboote, zunächst scheinen sie ihn aber nicht zu bemerken. Gesehen hat ihn dagegen der Kapitän einer westdeutschen Fähre, die vom Trelleborg in Schweden nach Travemünde unterwegs ist. Er ändert den Kurs und lässt ein Rettungsboot zu Wasser. Das sehen auch die DDR-Grenzer - ein regelrechtes Wettrennen Richtung Wächtler beginnt. Das Rettungsboot erreicht den Flüchtling zuerst. "An Bord der "Peter Pan" habe ich noch gehört, wie die Leute geklatscht haben, dann habe ich vor Erschöpfung das Bewusstsein verloren."

Wächtler hatte Glück. Mehr als 5000 DDR-Bürger wagten nach dem Mauerbau 1961 einen Fluchtversuch über die Ostsee. Nach ausgewerteten DDR-Unterlagen endete für 174 die Flucht tödlich, 4522 Menschen wurden entdeckt und festgenommen. Nur 913 Versuche waren erfolgreich. Etwa zwei Drittel der Flüchtlinge waren 14 bis 21 Jahre alt, etwa die Hälfte waren Arbeiter. Die meisten Festgenommenen wurden schon an Land entdeckt. Die auf der Flucht Gestorbenen kenterten mit ihren Booten oder hatten als Schwimmer ihre Kräfte überschätzt. Tote wurden auch an Dänemarks Strände gespült. Viele wurden auch von Fischern gefunden. 54 Flüchtlinge gelten heute noch als vermisst. Diese Zahlen ermittelte die Autorin Christine Vogt-Müller für ihr Buch "Hinter dem Horizont liegt die Freiheit..." (Delius Klasing, Bielefeld 2003) in Akten der Grenzbrigade Küste der DDR, der Stasi-Unterlagenbehörde und der Ermittlungsstelle für Regierungskriminalität (ZERF).

In den letzten Jahren der DDR sicherten 1000 Grenzer die Küste von Land aus. Dazu gab es 75 Beobachtungsstellen. Auf See waren 34 Boote mit 800 Mann im Einsatz. Die Kapitäne der DDR-Handels- und Fischereiflotte waren verpflichtet, Flüchtlinge auch gegen deren Willen aus dem Wasser zu holen.

Quelle: focus.de


Wir wollen raus! - Fluchtgeschichten- Teil 1- Spektakuläre Fluchten aus der DDR


04.Mai.1987
- Frau Trauzettel versteckt ihren 4jährigen Sohn Mike in einer großen Einkaufstasche auf einem Einkaufsroller (der Kopf des Jungens war nur mit einem Handtuch zugedeckt). Beiden gelang die Flucht in den Westen, da die Frau eine Genehmigung für einen kurzen Aufenthalt im Westen hatte und es bei solchen Angelegenheiten nur sehr selten Kontrollen gab. Später waren sie im Westen nicht mehr auffindbar.

1987
- Helke Dittrich, 25 Jahre, versteckte sich im Inneren zweier aufeinandergelegten innen hohlen Surfbrettern. Ihr Freund Ulrich Werner, 27 Jahre, fuhr den Renault Fuego, auf dessen Gepäckträger die Bretter geschnallt waren, sicher über die Grenze. Flucht war gelungen!

15.August.1961
- Der erste Volksarmist sprang über die Grenze (Stacheldraht). Dabei wurde er zufällig fotografiert und dieses Foto ging um die Welt.(Viele DDR-Bürger wurden daraufhin Grenzsoldaten mit der Hoffnung größere Chancen zur Flucht zu haben.)

23.November.1961
- „Verspätung in Marienborn“
Ein 20jähriger sprang auf einen US-Militärszug auf, er zerschlug die Scheiben und bat andere Mitfahrer um Hilfe und Unterstützung. Die Sowjets merkten dies sofort und wollten den Zug durchsuchen. Erst nach 16Std. Aufenthalt in Marienborn übergab die US-Militärskommission nach langen Diskussionen mit den Sowjets den Mann an sie. Die Flucht war mißlungen.

18.April.1962
- Klaus Brüske wollte seinen mit Flüchtlingen beladenen LKW durch die Grenze hindurchfahren. Im hektischen Kugelhag en, wurden sie festgenommen.


1962
- Ein Mann ließ sich von einer Freundin eine Uniform aus der BDR schicken – sie saß perfekt. Er studierte den sowjetischen Gruß, bis er auch den perfekt konnte. Schließlich maschierte er einfach so in den Westen.

12.Mai.1963
- 12 Ostberliner versuchen mit einem BVG-Bus die Grenze zu durchfahren. Sie kommen in den Kugelhagel und halten an – sie geben auf. Vier von ihnen sind schwer verletzt. Die Flucht scheitert.

17.September.1963
- Ein Postangestellter flüchtet mit zwei Freunden in einem Lastwagen. Sie rasen durch drei Stacheldrahtzäune und prallen gegen die Eingangstür eines Westberliner Hauses. Diese Flucht gelingt.

1964
- Im kleinsten Automobile „Isetta“ verstecken sich neun Flüchtlinge, wo sonst Heizanlage und Batterie sind. Die Flucht gelang, weil niemand diesen Autotyp kontrollierte, da es unmöglich schien dort Personen zu verstecken.

1964 -1969
- Kurt Wordel schleuste in seinen drei PKW `s vom Typ VW 1200 insgesamt 400 Personen über die Grenze. Sie hielten sich im Kofferraum oder in ausgebauten Seitenverstecken auf.

1964
- Die größte Massenflucht gelang in einem selbstgegrabenen Tunnel, dieser war 45m lang und verlief in 12m Tiefe. Der Einstieg war ein Toilettenhaus im Hinterhof von Ost- Berlin und der Ausstieg war im Keller einer ausgedienten Bäckerei (vom Initiator gemietet) in West- Berlin. Nach einem halben Jahr harter Arbeit konnten schließlich 57 Menschen durch diesen Tunnel fliehen.

09.September.1968
- Bernd Böttger, 28 Jahre, baut sich aus einem Fahrradhilfsmotor ein Mini- U- Boot und ließ sich damit durch die Ostsee nach Dänemark ziehen (25km in 5Std.). Von einer westdeutschen Firma wird der Erfinder sofort eingestellt, um ein Serienmodell zu entwickeln, das für die Rettungsdienste eine Revolution werden sollte.

1970
- Ein Franzose bastelt seiner Braut ein Versteck aus zwei Koffern. Der Franzose und seine Freunde fuhren mit dem Zug Richtung Westen. Die Freundin stieg zu und kroch in ihr Versteck, wo sie 70min. verweilen mußte, bis sie alle im Westen waren.

1971
- Ein 24 jähriges Mädchen stieg, während eines Umzugs eines Bekannten in den Westen, in seine Musiktruhe. Durch einen glücklichen Zufall wurde sie an der Grenzkontrolle übersehen. Niemand wußte von ihrer Aktion, welche gelang.

1977
- Der holländische Sänger Theodorus Kerk, welcher überall sehr beliebt war, wollte seiner Freundin Renate Hagen helfen in den Westen zu kommen. Er versteckte die Artistin in einer der Lautsprecherboxen. Die Grenzposten achteten nicht auf die Boxen, da der Mann sehr berühmt war, und die Flucht gelang.

1979
- Zwei Familien flohen in einem Heißluftballon in den Westen. Der Erbauer eignete sich alle Kenntnisse allein durch Fachliteratur an und testete selbst verschiedene Stoffe und Brennmaterialien. In 28min. legten sie 40km zurück und erreichten sicher ihr Ziel.

-In einem Haus in der Bernauer Straße genau an der Grenze zu West will eine alte Frau aus dem Fenster flüchten und es ergibt sich ein Gedränge zwischen Ost- und Westpolizei, während die Frau in der Luft hängt. Ein Ostpolizist feuert eine Rauchpatronesab, wodurch die Frau fallengelassen wird und im Westen stirbt.

-Dieter Jentzen, ein 25 jähriger Volksarmist, sprang aus 8m Höhe in den Westen. Er zog sich schwere Fußverletzungen zu und lag 2 Jahre im Westen im Krankenhaus.

-Bei Heringen flüchteten drei Volksarmisten mit ihrem Panzerspähwagen. Sie waren schwer bewaffnet. Sie wußten wo die ausbesserungsbedürftigen Stellen an der Grenze waren und rasten so durch den Stacheldraht in den Westen.

-Ein Artist hangelte sich mit Hilfe eines Holzgestelles an einer 11000 Volt geladenen Hochspannungsleitung
entlang nach Westen. Dort sprang er aus 12m Höhe und brach sich beide Arme, jedoch war die Flucht gelungen.

-Ein anderer Mann versteckte sich im Bauch einer Plasikkuh, welche als Ausstellungsstück in den Westen transportiert wurde. Der Mann blieb unbemerkt und seine Flucht gelang.

-Ein 23jähriger Mann schmuggelte seine 17jährige Freundin in einer Kabeltrommel in den Westen . Die Flucht war gelungen, jedoch kehrte das Mädchen auf das Bitten und Drängen seiner Eltern wieder zurück in den Osten. Für sie hatte der Vorfall keine Konsequenzen, jedoch war somit das Fluchtmittel aufgedeckt.

-Als die Fluchtwellen immer größer wurden, ließ man Metallspitzenmatten am Boden Mauer angrenzender Häuser und Gewässer auslegen, wodurch es zu vielen schweren Verletzungen kam. Ein Taucher jedoch „operierte“ mal ein Stück dieser Matte heraus, wodurch etwa 14 Personen die Flucht unter Wasser gelang.


Strafverfolgung von Flüchtlingen Im Strafgesetzbuch (StGB) von 1975 gab es drei Paragraphen, die sich mit der Problematik befaßten:

§ 254- Fahnenflucht
- Dieser galt nur für Angehörige des Militärs.
Man beging Fahnenflucht, wenn man die Dienststelle, die Truppen oder einen anderen für sich bestimmten Aufenthaltsort verließ oder ihm fernblieb, um sich dem Wehrdienst zu entziehen. Die Folge waren 1-6 Jahre Haft, in besonders schweren Fällen auch 2-10 Jahre Haft. Besonders schwere Fälle waren, wenn von mindestens zwei Personen Fahnenflucht durchgeführt wurde, man die DDR verlassen oder in ihr bleiben wollte. Vorbereitung und Versuch der Fahnenflucht waren strafbar.

§ 213- ungesetzlicher Grenzübertritt
- Das widerrechtliche Verlassen des Staatsgebietes der DDR wurde mit 1-2 Jahren Haft (auch auf Bewährung), einer Geldstrafe oder einem öffentlichem Tadel bestraft. In schweren Fällen gab es auch 1-5 Jahre Haft, aber nur wenn Grenzanlagen beschädigt wurde, Werkzeuge mitgeführt oder benutzt wurden, wenn Ausweise oder Grenzüberschrittsdokumente gefälscht oder mißbraucht wurden oder wenn man deswegen schon vorbestraft war.
Vorbereitung und Versuchdessen war strafbar.
-ab 1986 einige Veränderungen in § 213
- Es galt als Gesetzesverstoß, wenn man die Staatsgrenze widerrechtlich passierte oder nicht fristgemäß in die DDR zurückkehrte. Vorbereitung und Versuch waren strafbar. Die Folge waren bis zu 2 Jahre Haft und in schweren Fällen 1-8 Jahre Haft. Der Vorbereitung konnte man angeklagt werden, wenn man mit dem Gedanken spielte die DDR zu verlassen und diesen in irgendeiner Form festhielt/aussprach oder wenn man im Sperrgebiet erwischt wurde. Wenn man auf einen Grenzer schoß oder sich mit anderen Waffen gegen die Festnahme wehrte, konnte dies zu lebenslanger Haft führen.

§ 105- staatsfeindlicher Menschenhandel
- Jemand, der Bürgern der DDR half in außerhalb des Staates liegende Gebiete zu gelangen, sie verschleppte, ausschleuste oder deren Rückkehr verhinderte, wurde mit mindestens 2 Jahren Haft bestraft, in schweren Fällen konnte man auch lebenslänglich bekommen. Alles in allem sind viele Fluchten gelungen und gleichzeitig wurden viele Opfer gefordert.

Ein großes Problem war, dass wenn eine Flucht scheiterte gleichzeitig auch ihre Methode/Fluchtmittel bekannt wurde und somit das Sicherheitssystem und die Kontrollen an Grenzen aber auch allgemein verschärft wurden und es im Laufe der Zeit immer schwieriger wurde zu flüchten. Aber in der Notsituation waren die Menschen am kreativsten und mutigsten. Aber ohne die Hilfe und den Schutz der West- Berliner/- Polizei/- Grenzsoldaten wären mehr Flüchtlinge gescheitert. Denn kaum stand man mit beiden Beinen im Westen konnte man sofort Sicherheit und Unterstützung erwarten.

Quelle: salvator.net (Referat)


Dienstag, 20. Oktober 2009

Stasiopfer berichten - Teil 9 - Familie Walther und die "Aktion Ungeziefer"


Im folgenden Text erzählt die Familie Walther ihr Schicksal in Zeiten der Zwangsumsiedlungen unter dem Decknamen "Ungeziefer" und "Kornblume".


Gesetzliche Grundlagen für Zwangsaussiedlungen aus dem Gebiet entlang der Zonengrenze waren die am 26. Mai 1952 durch den Ministerrat der DDR verabschiedete "Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der DDR und den westlichen Besatzungszonen" und der Befehl 38/52 der Hauptverwaltung Deutsche Volkskpolizei. In der Verordnung wurde das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) beauftragt, "unverzüglich strenge Maßnahmen zu treffen für die Verstärkung der Bewachung der Demarkationslinie, um ein Eindringen von Diversanten, Spionen, Terroristen und Schädlingen zu verhindern.".


Während die Arbeiter der Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS), die Bauern und Waldarbeiter gezwungenermaßen mit dem Pflügen und Roden eines zehn Meter breiten Streifens, dem Aufstellen von Schildern zur Markierung der 500-Meter-Schutzzone und der 5-Kilometer-Sperrzone begannen, wurden mit Hilfe der Spitzelunterlagen der Volkspolizei und des MfS die Listen der auszusiedelnden Personen erarbeitet.

Von allen diesen Veränderungen bekamen wir nur den sichtbaren Teil mit, nämlich die Befestigung der Zonengrenze. Wir wußten auch nicht, dass über jede Person, die in der 5-Kilometer-Zone wohnte, eine Karteikarte von der Volkspolizei geführt wurde. Waren wir wirklich so naiv oder wollten wir nichts davon hören und sehen, weil es schwer ist, mit dem Gedanken zu leben, dass alles, was gesagt, getan oder auch nur am Stammtisch erzählt wurde, festgehalten wird? Außerdem gab es im Frühjahr soviel Arbeit auf dem Bauernhof, dass wohl kaum jemand über politische Zustände nachdachte.

Die ungewohnte Betriebsamkeit, das Umackern der Felder und Wiesen direkt an der Grenze, die Hektik, welche die Volkspolizei erkennen ließ, machte uns allerdings schon unruhig. Aber immer noch dachte jeder, uns kann doch nichts passieren, haben wir doch niemanden erschossen oder sonst jemandem geschadet. Es wurde immer deutlicher, dass in den Zeitungen und im Radio ganz auffällig eine Hetze gegen die Bundesrepublik anlief. Dass das MfS und die VP unter Teilnahme der örtlichen Staatsorgane in Übereinstimmung mit oben genannter Weisung eine Säuberung von "feindlichen, kriminellen und verdächtigen Elementen" durchführte, bezogen wir aber keinesfalls auf uns. Zu der Zeit wussten wir noch nichts von der Zwangsaussiedlungen von Familien in Sachsen und in Mecklenburg, die schon Mitte bis Ende Mai stattfanden.

Der 5. Juni 1952, ein Wochentag nach Pfingsten, war für mich ein Tag wie jeder andere. Ich musste um 6.00 Uhr aufstehen, mich anziehen, dann in der Gaststube die Stühle auf die Tische stellen und den Fußboden fegen. Das war meine tägliche Aufgabe, bevor ich das Fahrrad heraus holte, um in die Kreisstadt ins Gymnasium zu fahren. An diesem 5 .Juni war aber alles ganz anders. Die Eltern kamen völlig verstört aus dem Stall in die Küche und sagten, heute brauchte ich nicht in die Schule zu fahren, wir müssten weg. Ich begriff gar nichts und sagte: "Was soll das heißen, wir müssen weg, wohin sollen wir, und warum denn?" Die Eltern zuckten nur mit den Schultern und berichteten, dass heute um fünf Uhr in der Früh ein Polizist da war, der die Ausweise mitnahm, und ihnen ein Schriftstück vorlas, nach dem wir innerhalb vierundzwanzig Stunden das Dorf zu verlassen hätten. Weder ich noch meine Eltern begriffen die Tragweite des Schreibens. Das konnte doch nur ein Irrtum sein. Erstmal müssten die Kühe gemolken und gefüttert und die Schweine und Hühner versorgt werden, dann würde sich hoffentlich diese komische Sache aufgeklärt haben. Wir hatten doch nichts verbrochen und außerdem muß in einer Demokratie ein Gericht beurteilen, ob jemand eingesperrt oder anderweitig bestraft werden soll. Wir lebten doch in einer Deutschen Demokratischen Republik, in der es keine willkürlichen Strafen gibt, also konnte nur ein Missverständnis vorliegen. So waren unsere Überlegungen und ich fuhr also nicht in die Schule, sondern begab mich auf die Dorfstraße, wo helle Aufregung herrschte.

Aus jedem Anwesen kamen die Männer heraus und sagten, das ganze Dorf müsse geräumt werden, es würde sicher Krieg geben. Die SED-Presse hatte schon immer prophezeit, dass die Amerikaner bereit stehen, um die Grenze mit Panzern zu überfahren und die kleine Deutsche Demokratische Republik dem großen Westdeutschland einzuverleiben. Schon über Wochen standen solche Vermutungen und Befürchtungen in der Tageszeitung, wo diese reißerische Kriegspropaganda immer wieder auf der ersten Seite präsentiert wurde und zwar so oft, dass keiner es mehr ernst nahm.

Inzwischen kamen im Laufe des Vormittags Polizisten in großer Zahl ins Dorf und gaben den betroffenen Familien Anweisung, persönliche Sachen einzupacken, denn es kämen Lastwagen, die uns und unsere Möbel nach der nächsten Bahnstation, nach Sonneberg fahren werden. Um das Vieh sollten wir uns nicht kümmern, es werde alles geregelt. Fassungslos standen die Eltern herum und erfuhren erst im Laufe des Tages, dass nicht alle Häuser geräumt werden sollten, sondern nur ausgesuchte Familien abtransportiert würden.
Unsere Nachbarn, es waren auch unsere Verwandten, gehörten ebenfalls zu diesen ausgesuchten Familien, ebenso wie unsere Nachbarn zur anderen Hofseite. Die Männer, die die Entscheidungen in den Familien trafen, waren sich einig, dass diese ganze Aktion mit der Grenze zu tun hat und nur eine vorübergehende Sache sein könnte. Sie wollten erst einmal der Anordnung der Regierung nachkommen, denn es würde sich herausstellen, dass keiner etwas verbrochen hat, das eine schwerwiegende Strafe rechtfertigt. Außerdem gäbe es ja auch noch Gerichte und man würde sich zu wehren wissen.

Sicher nicht nur bei uns wurde an diesem Tag nichts gekocht, auch nichts gegessen. Wir waren unfähig, dieses Ereignis zu begreifen, geschweige es richtig einzuordnen. Den Hof und das Haus verlassen, das war nur im Todesfall denkbar. Bauern sind traditionsbewusst, handeln immer im Sinne von Vorfahren und bedenken das Leben der Nachkommen. Mein sonst so tatkräftiger Vater ging mit hängenden Armen durch alle Zimmer des Hauses, in den Stall, in die Scheunen, in den Garten, ohne etwas zu tun oder zu sprechen. Die Mutter stand mit Nachbarinnen wieder in der Küche. Sie machten sich Gedanken, was nun werden wird, ob wir etwa nach Sibirien oder nur an die polnische Grenze als Landarbeiter kämen. Schlagartig kam uns die Prophezeiung der Frau Janik aus Estland in den Sinn. Sollte sie damit recht haben, dass man unter dem sowjetischen System nicht leben kann. Die Frauen waren es auch, die erwogen, nachts nach Neustadt, also nach Bayern zu flüchten. Noch hatten wir nichts eingepackt, es war Sommer, vielleicht brauchte man aber auch keine Winterkleidung, meinten wir doch, dass wir sicher wieder zu Hause sind, bis die kalte Jahreszeit da ist. Ratlos standen wir herum, ich nahm auf jeden Fall meine Schultasche an mich. Noch immer war im Dorf eine Stimmung wie vor Ankunft der Amerikaner zum Kriegsende 1945. Es gab zahlreiche Überlegungen, was wohl werden wird, ob die restlichen Familien am nächsten Tag auch weg müssen oder in einem Monat. "Wenn ein Krieg vor der Tür steht, habt ihr es besser, ihr seid weg, aber wir hier unmittelbar hinter der Grenze werden vielleicht in Kämpfe verwickelt werden." So schwappten Befürchtungen und Ahnungen hin und her.

Dann kam gegen Abend Vaters Cousine Edelgard zu uns und fing an, Bettzeug, Federbetten und Decken in Säcke zu stopfen. Wir sahen zu, als ob es uns nichts anging. Sie war eine energische junge Frau und fragte, ob wir etwa auf kaltem Fußboden schlafen wollten. Es sei egal, wo wir hingebracht würden: Betten zu haben sei das Wichtigste. Sie brachte auch Körbe von zu Hause mit, in denen stapelte sie Töpfe und Geschirr und verpackte alles mit Handtüchern. Mir drückte sie einen Leinensack in die Hand und befahl mir, meine Unterwäsche, meine Kleider und Schuhe darin unterzubringen. Ich tat es und packte auch für meine Schwester einen Sack voll. Für meine Mutter und meinen Vater übernahm Edelgard das Einpacken. Meine Mutter suchte Bilder, mein Vater saß mit hängendem Kopf auf dem Brunnentrog im Hof und weinte. Das hat mich am meisten erschüttert! Habe ich doch meinen Vater in sehr unterschiedlichen Situationen erlebt. Ein Mann, der den Krieg mitgemacht hatte, der voller Ideen war für die Zukunft, saß da und weinte! Er war 45 Jahre alt und war doch voller Pläne. Aber so ein Ereignis war von niemandem im ganzen Dorf vorhergesehen worden.

Heute wissen wir, dass es in jedem Dorf im Grenzgebiet Personen gab, die die Familien auswählten, die also bestimmten, welche Familien zwangsausgesiedelt werden sollten. Jetzt weiß ich, dass diese Aktion unter dem Decknamen "Ungeziefer" lief und die Menschen an der Zonengrenze einschüchtern und für die weiter Umgestaltung der Landwirtschaft im Sinne der SED gefügig machen sollte. Die Auswahl der zwangsauszusiedelnden Personen oblag in erste Linie der Volkspolizei, denn die führte über jede Person Unterlagen, in denen Äußerungen oder Meinungen von jedem festgehalten wurden. Hinzugezogen wurden die örtlichen Organisationen, wie Parteigruppe, Gewerkschaftskader, inoffizielle Mitarbeiter des MfS und der Bürgermeister.

In unserem Dorf hatten elf Familien diesen Befehl der Regierung erhalten, darunter die zwei Gastwirte, also unsere Familie und die Familie Knauer. Am 6. Juni 1952 wurden 29 Personen in Lastwagen nach Sonneberg zum Abtransport gebracht. Dies hört sich sehr sachlich an, war aber für alle eine schlimme Situation, ein totaler Einschnitt in ihrem Leben und eine Lebenswende nicht zum Besseren. Es war ein Lebensbruch, nach dem sich jeder neu orientieren mußte.- Dies haben wir zu dieser Zeit natürlich noch nicht erfasst. Die unmittelbaren Ereignisse ließen uns nicht so weit denken.

Wie wir die letzte Nacht in unserem Haus verbracht haben, kann ich mich nicht mehr erinnern. Nachdem meine Eltern das letzte Mal im Stall waren, um die Tiere zu versorgen, gingen sie auf die Straße und gaben den Volkspolizisten, die immer anwesend waren, alle Schlüssel. Wir betraten das Haus nicht mehr und schlossen es auch nicht ab.


Am Morgen des 6. Juni stand ein LKW vor unserem Haus und wir erhielten den Befehl, Möbel und persönliche Sachen aufzuladen und dann selbst auf die Ladefläche des LKW zusteigen, um abtransportiert zu werden. Immer noch wußte niemand, wohin wir gebracht werden. Gerüchte und Vermutungen jagten uns Angst ein. Ist es vielleicht Buchenwald oder etwa ein anderes Internierungslager jenseits der Oder/Neiße Grenze? Wieder konnten wir keine Hand rühren, wir standen davor und Nachbarn luden unsere Möbel auf. Wieder war es Edelgard, die bestimmte, was mitgenommen werden soll, was eine Familie ungedingt brauchte.

Verwandte und Nachbarn standen um uns herum, die blanke Angst in den Augen, daran denkend, wie es weitergehen sollte, ob sie auch abgeholt würden. Als wir auf den LKW aufgestiegen und zwischen vier Bettgestellen, einem Tisch und vier Stühlen, einem Kleiderschrank, der Nähmaschine und dem Küchenschrank einen Platz zum Sitzen gesucht hatten, weinten alle Leute auf der Straße und wir auch. Nachdem sich der LKW in Bewegung gesetzt hatte, winkte niemand. Alle verzogen sich in ihre Häuser und machten die Tür fest hinter sich zu.

Von jedem Ort, der innerhalb der 5-Kilometer-Zone lag, fuhren an diesem Tag die LKWs zur Bahnstation, beladen mit Möbeln und verstörten Menschen. Die Dörfer, die wir durchfuhren, waren wie ausgestorben. Niemand war auf der Straße, auf dem Hof oder am Fenster zu sehen. Alles wirkte unbewohnt. Nicht nur wir auf den LKWs hatten große Angst, wohin es gehen wird, auch die Zurückgebliebenen wollten sich das Bild des Abtransports nicht im Gedächtnis einprägen. Sie wollten nichts sehen und hören. Der Mensch kann auch nur ein bestimmtes Maß an Unglück ertragen, wird es überstiegen, setzt eine Verdrängung des Geschehenen und Gehörten ein. Man will und kann nicht mehr hinsehen. So war es auch an diesem schönen Sommertag des 6. Juni 1952.

Unser Abtransport ins Ungewisse setzte am späten Nachmittag ein. Den Güterwaggon teilten wir mit unseren Verwandten und Nachbarn gleichen Familiennamens. Der Zug hielt oft, aber immer in unbewohnten Gegenden, so dass wir nicht wussten, wo wir uns befanden. Nachts um 2:30 Uhr hielt der Güterzug, die Türen wurden geöffnet und wir stiegen aus. Wir befanden uns auf dem Güterbahnhof in Göschwitz, also noch in Thüringen. Alle atmeten auf; Gott sei dank war es nicht an der polnischen Grenze zu Russland. Noch wusste keiner, ob es für uns Endstation oder nur ein Zwischenaufenthalt war. Polizisten luden die Waggons aus. Wieder standen unsere wenigen Möbel auf einem Bahnhof. Nun kamen LKWs, Polizisten verfrachteten jede Familie mit ihren Möbeln und dann ging es in die Nacht hinaus. Wir fuhren zwischen 2 und 3 Uhr morgens bei völliger Dunkelheit in ein Dorf, der LKW hielt vor der Kirche. Fenster in Wohnhäusern öffneten sich, verschlafene Frauen schauten heraus und sahen mitten in der Nacht einen Lastkraftwagen in ihrem Dorf halten, der mit Möbeln und mit einer Familie beladen war. Der Fahrer erkundigte sich nach dem Weg zu der Adresse, die er anzufahren hatte: "Behelfsheim 24".

Eine der Frauen bot uns an, dass das Kind, sie meinte meine Schwester, in ihrem Haus die Nacht abwarten könne. Meine neunjährige Schwester wollte nicht alleine weg von den Eltern. Sie hatte Angst. Der Fahrer fand schließlich nach langem Suchen in der Nacht den Weg zum "Behelfsheim". Es war eine Barackensiedlung, die sich außerhalb des Ortes Lobeda an einem Berghang befand. Ehemals waren es Unterkünfte für Kriegsgefangene, die in Deutschland in Fabriken arbeiten mussten. Zu diesem Barackenlager führte nur ein leidlich befestigter Feldweg, den der LKW mit Mühe befahren konnte. An einer Baracke, in einer Reihe gleich ausssehender Unterkünfte war Endstation. Noch war es dunkel. Auf Geheiß des Fahrers stiegen wir aus. Ungläubig sahen wir unser künftiges Zuhause an, es sah eher wie ein Schuppen aus. Trotzdem begannen wir, unsere Möbel in das Gebäude zu tragen. Licht war vorhanden. Zwei Räume mit je einem Fenster, einem Herd, aber ohne Wasseranschluß - das war nun unsere Wohnung. Diese unzumutbaren Verhältnisse machten meinen Eltern eigentlich Hoffnung. Sie dachten, dass in so einer Baracke keine Familie den Winter aushalten kann, also würde es nur eine vorübergehende Unterkunft sein.

Als erstes wurden in der Nacht noch die vier Betten aufgebaut, wurde das Bettzeug aus den Säcken genommen und meine übernächtigte Schwester schlafen gelegt. Als es Tag wurde, sahen wir die ganze Barackensiedlung und waren erstaunt, dass sie von Heimatvertriebenen aus den Gebieten jenseits der Oder/Neiße oder dem Sudetenland bewohnt war. Diese Familien, die doch eigentlich nur vorübergehend in den Baracken untergebracht waren, lebten bereits mehrere Jahre dort. Sie hatten sich die Unterkunft winterfest gemacht und hofften immer noch auf eine bessere Bleibe, denn Wohnungen konnte man diese Baracken nicht nennen. Dort stellten wir nun unsere wenigen mitgebrachten Möbel auf und richteten die zwei kleinen Räume einigermaßen "wohnlich" ein. Das schönste an dieser Barackensiedlung war die Lage. Wir schauten weit in das Saaletal, im Rücken war ein Kalkberg, bewachsen mit Trockenrasen und einzelnen Büschen und Pflanzen.
Meine Eltern hatten keine Vorstellung, wie es nun weiter gehen sollte. Als erstes versuchte meine Mutter, den eisernen Ofen anzuzünden, aber womit? Wir hatten weder Kohle noch Holz, doch vier Personen wollten essen und trinken. Eine zentrale Wasserstelle fanden wir am Ende des provisorischen Weges. Wir hatten aber nicht einmal Eimer mitgenommen. Edelgard hat sie vergessen. Die Nachbarn, Bewohner der anderen Baracken, waren sehr hilfreich, sie brachten uns zu essen und zu trinken. Zum ersten Mal in ihrem Leben waren meine Eltern gezwungen, einen Broterwerb außerhalb des Hauses zu suchen. Bargeld hatten sie wenig, da wir daheim nach der Währungsreform eine neue Gartenmauer zur Straße hin hatten bauen lassen, eine sehr schöne Mauer aus Steinacher Granit. Dadurch war das Konto nahezu aufgebraucht.

Von der Stadt Jena bekamen wir ein Übergangsgeld und die Lebensmittelkarten ausgehändigt.
Mein Vater erkundigte sich, ob jemand in der Nähe einen Fleischermeister einstellen würde. Es war aber in der DDR die Zeit der Enteignungen der kleinen Geschäftsleute und man war froh, im ehemals eigenen Geschäft als Meister angestellt zu werden. Als letztes blieb noch der Schlachthof in Jena. Unser Vater fing am 1. 7. 1952 im VEB Schlachthof an zu arbeiten, aber nicht als Meister, sondern als Hilfsarbeiter. Das war die weitere Demütigung, die er hinnehmen musste. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass es nur ein Provisorium sein konnte.

Quelle: http://www.familientagebuch.de/



Donnerstag, 15. Oktober 2009

"Aktion Ungeziefer" - Zwangsumsiedlungen im Namen der Stasi

Über 10.000 Menschen wurden im Rahmen von zwei großen Aktionen an der innerdeutschen Grenze auf Geheiß der DDR-Regierung 1952 (Deckname "Ungeziefer") und 1961 (Deckname "Kornblume") aus ihren Dörfern - wie es geschönt hieß - "ausgesiedelt". Außerdem wurden bis in die siebziger Jahre, nachdem auch noch die letzten Bewohner zermürbt und vertrieben worden waren, viele dieser Dörfer, die den DDR-Machthabern zu nahe an der "Staatsgrenze-West" standen, dem Erdboden gleichgemacht. Alle diese Dörfer lagen in der sogenannten "Sperrzone". Die Gesamtfläche dieses 5-km Sperrgebietes entlang der 1394 km langen Grenze betraf über 3.000 qkm, das waren ca. 2,8 % des Gebietes der DDR, mehr als die Fläche des Großherzogtums Luxemburg.

Die Lkw kamen im Morgengrauen mit gedrosseltem Motor. Von den Pritschen sprangen bewaffnete Volkspolizisten herunter, drangen in die Häuser des kleinen Ortes vor und gaben knappe Anweisungen: "Fertig machen. Sachen packen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit müssen Sie den Grenzkreis sofort verlassen." Die Menschen durften schnell noch ein paar Habseligkeiten zusammensuchen, dann wurden sie auf die Lkw verladen und in hastig errichtete Notquartiere in der gesamten DDR gebracht. So wie die 100-Seelen-Gemeinde Stresow, 45 Kilometer nordwestlich von Magdeburg an der Elbe gelegen, wurden ab Mai 1952 Hunderte Dörfer zwischen Rhön und Ostsee entvölkert. Sie hatten in den Augen der Staatssicherheit einen entscheidenden Makel – sie lagen zu nah an der Grenze zum Westen. Der Tarnname der Zwangsumsiedlungsaktion war: "Aktion Ungeziefer". Sie war minutiös geplant und galt als "geheime Verschlusssache". Eine gesetzliche Grundlage für diese Aktion existierte nicht. Sie basierte lediglich auf Befehlen und Weisungen des Ministers für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser und stand in krassem Gegensatz zur DDR-Verfassung. Aber die Staatssicherheit hatte die Hoheit über das Grenzregime.

Auslöser für die Zwangsumsiedlungen war die Verordnung des Ministerrates der DDR vom 26. Mai 1952 "über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der DDR und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands", die einen zügigen Ausbau der innerdeutschen Grenze vorsah. Es wurden Wachtürme errichtet, mannshohe Zäune gezogen und ein 500 Meter breiter Schutzstreifen angelegt, der nur bei Tageslicht und mit einem Sonderausweis betreten werden durfte. Der gesamte Grenzraum bis zu einer Tiefe von 5 Kilometern wurde zur "Sperrzone" erklärt.

Anfänglich richtete sich die Zwangsumsiedlung nur gegen "feindliche, verdächtige und kriminelle Elemente", die schnellstmöglich aus dem Grenzbereich entfernt werden sollten. Das konnten Bauern sein, die sich der Kollektivierung widersetzten, Personen "mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr" oder einfach politisch Missliebige. Der Rahmen war von der Staatssicherheit weit gespannt. Nicht selten genügten aber auch Denunzierungen, um auf die Liste der "feindlichen Elemente" gesetzt zu werden. Im weiteren Verlauf der Zwangsumsiedlungsaktionen wurden ganze Dörfer und Gemeinden im Grenzgebiet entvölkert. Von der "Aktion Ungeziefer" waren in den 1950er-Jahren etwa 10.000 Menschen betroffen, von der "Aktion Kornblume" im Jahr 1961 noch einmal etwa 2.000. Mehr als 3.000 Menschen entzogen sich der Umsiedlung durch Flucht in den Westen. Doch selbst in den 1970er und 1980er Jahren gab es noch vereinzelte Zwangsumsiedlungen aus dem Grenzgebiet.

Für die Zwangsumgesiedelten war der Abtransport aus ihren Häusern in den meisten Fällen ein Abschied auf Nimmerwiedersehen. Die entvölkerten Dörfer wurden im Zuge des weiteren Ausbaus der Grenzsicherungsanlagen oft dem Erdboden gleich gemacht - wie auch das Dörfchen Stresow an der Elbe. Gleichzeitig hatte die Staatssicherheit sämtlichen Betroffenen dringlich nahe gelegt, Stillschweigen über das Geschehene zu wahren. Eine Entschädigung für den Verlust von Häusern und Höfen war nicht vorgesehen.



Folgende Dörfer wurden zu DDR-Zeiten zerstört, nachdem ihre Einwohner vertrieben worden waren. Es handelt sich hierbei nur um eine Auswahl ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

  • Bardowieck, Kreis Grevesmühlen
  • Billmuthausen, Kreis Hildburghausen
  • Broda, Kreis Ludwigslust
  • Dornholz, Kreis Schleiz
  • Erlebach, Kreis Hildburghausen
  • Grabenstedt, Kreis Salzwedel
  • Hammerleithen, Kreis Plauen
  • Heiligenroda, Kreis Bad Salzungen
  • Jahrsau, Kreis Salzwedel
  • Kaulsroth, Kreis Sonneberg
  • Korberoth, Kreis Sonneberg
  • Lankow, Kreis Schönberg
  • Leitenhausen, Kreis Hildburghausen
  • Lenschow, Kreis Grevesmühlen
  • Liebau, Kreis Sonneberg
  • Lieps, Kreis Hagenow
  • Neuhof, Kreis Gadebusch
  • Neu Gallin, Kreis Hagenow
  • Niederndorf, Kreis Bad Salzungen
  • Ruppers, Kreis Meiningen
  • Schmerbach, Kreis Meiningen
  • Schwenge, Kreis Bad Salzungen
  • Stöckigt (nur Ortsteil), Kreis Plauen
  • Stresow, Kreis Salzwedel
  • Vockfey bei Neuhaus, Kreis Hagenow
  • Wehningen (nur Ortsteil), Kreis Ludwigslust
  • Zarrentin-Strangen, Kreis Hagenow
(Quelle und Foto: www.grenzerinnerungen.de und mdr.de)


Sonntag, 11. Oktober 2009

Donnerstag, 8. Oktober 2009

1000 Mark pro Todesschuss-Jagd auf DDR Flüchtlinge


Verfaßt von TeamStasiopfer (www.stasiopfer.de) Von Stefan Appelius

Nicht nur an der Mauer, auch an den Grenzen der sozialistischen "Bruderländer" ließ die SED-Führung Jagd auf "Republikflüchtlinge" machen. An bulgarische Grenzer zahlte das Ostberliner Regime offenbar eine regelrechte Kopfprämie für jeden erschossenen DDR-Bürger. Deren Leichen wurden einfach im Grenzstreifen verscharrt.

"Republikflüchtlinge": So hießen im Jargon der SED Bürger, die aus der DDR in den Westen wollten. Den Ost-Berliner Herrschern galten sie als Staatsfeinde und Verbrecher, deren Flucht verhindert werden musste, kostete was es wolle - auch wenn es ihren Tod bedeutete. Bis Ende 1989 starben nach neuesten Erkenntnissen wohl 600 bis 800 Ost-Flüchtlinge an Berliner Mauer und deutsch-deutscher Grenze.

Gezielt getötet wurden DDR-Bürger auf dem Weg gen Westen aber nicht nur an der innerdeutschen Grenze. Auch die Flucht über die sozialistischen "Bruderländer" wie Ungarn oder Bulgarien war brandgefährlich und endete nicht selten tödlich. In der Balkanrepublik am Schwarzen Meer ging es dabei besonders blutig und brutal zu - mit ausdrücklicher Billigung der SED-Oberen in Ost-Berlin.

Nach Aussagen ehemaliger bulgarischer Grenzoffiziere, die die bulgarische Zeitschrift "Anti" schon Anfang 1993 veröffentlichte, zahlte die DDR-Botschaft in Sofia bulgarischen Grenzern für jeden getöteten DDR-Flüchtling eine Prämie in Höhe von 2000 Lewa, damals umgerechnet etwa 1000 D-Mark - im bettelarmen Bulgarien ein kleines Vermögen. Außerdem wurden die Todesschützen mit mehreren Tagen Sonderurlaub ausgezeichnet, eine auch in der DDR und in anderen Ostblockländern übliche Praxis. Ehemalige bulgarische Mitarbeiter der DDR-Botschaft in Sofia bestätigten der Zeitschrift seinerzeit, dass bulgarische Grenzer bei "vereitelten Grenzdurchbrüchen" Kopfgelder aus der DDR erhalten hätten. Der Bericht blieb in Deutschland aber weitgehend unbeachtet.

Im Grenzstreifen verscharrt

Sollten DDR-Behörden tatsächlich Kopfgelder an bulgarische Grenzer für die Tötung fluchtwilliger Bürger gezahlt haben, würde das möglicherweise auch erklären, warum einzelne ostdeutsche Flüchtlinge in Bulgarien mit Schüssen in den Hinterkopf regelrecht exekutiert wurden. Diese Todesart, die zuletzt bei einem Fall aus dem Juli 1989 dokumentiert wurde, wird durch Obduktionsberichte zweifelsfrei belegt.

Menschenverachtend war auch der Umgang mit den sterblichen Überresten der Opfer. Aus jetzt bekannt gewordenen Akten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) ergibt sich, dass die Leichen von an der Grenze getöteten DDR-Bürgern in Bulgarien bis Mitte der siebziger Jahre nur in Einzelfällen auf Friedhöfen beigesetzt wurden. In der Regel wurden sie an Ort und Stelle im Grenzstreifen verscharrt - wo sie zum Teil von wilden Tieren gefressen wurden. "Im Grenzgebiet wurden menschliche Gebeine entdeckt, die von Schakalen und streunenden Hunden aus der Erde geholt worden waren", sagt ein der Redaktion einestages namentlich bekannter Hochschullehrer aus Sofia, der jahrelang das Schicksal ostdeutscher Flüchtlinge in Bulgarien erforscht hat.

Beleg für diese unmenschliche Praxis war ein jetzt in Stasi-Akten aufgefundenes Geheimabkommen, das die DDR-Botschaft in Sofia Ende Februar 1975 mit dem bulgarischen Generalstaatsanwalt geschlossen hatte. Darin wurde festgelegt, dass die Leichen der im Grenzgebiet getöteten ostdeutschen "Straftäter" zukünftig zu überführen seien oder auf einem "öffentlichen Friedhof der Volksrepublik Bulgarien" beizusetzen seien - im Umkehrschluss fand dies bis dahin also nicht statt. Die Vereinbarung zwischen DDR und Bulgarien war das Resultat eines jahrelangen Kampfes der Eltern zweier in Bulgarien erschossener ostdeutscher Teenager, deren Leichen spurlos verschwunden waren. Die Eltern hatten sich bei ihrem Ringen um Aufklärung der Todesfälle nicht wie andere Angehörige von den DDR-Behörden einschüchtern lassen.

Ungeklärter Verbleib

Bis heute ist der Verbleib der sterblichen Überreste mehrerer in Bulgarien erschossener DDR-Bürger unbekannt. Einigermaßen sicher ist nur: Verbrannt wurden sie nicht, denn das war in der Bulgarien gesetzlich verboten. Kurz vor Ende der Volksrepublik 1990 untersagte der damalige bulgarische Innenminister Atanas Semerdjiev Grabungen im Grenzgebiet, offiziell um die "Grabesruhe der Toten" zu respektieren, so damals der SPIEGEL. Bis heute mag sich weder das Innenministerium noch die Pressestelle der bulgarischen Grenztruppen zu den damaligen Vorgängen äußern. Interviewanfragen aus Deutschland wurden bisher abgelehnt, jegliche Akteneinsicht verweigert.

Wie viele DDR-Bürger bei Fluchtversuchen in Bulgarien ums Leben kamen, wird wohl niemals genau herauszufinden sein. Nach Angaben bulgarischer Grenzer wurden ganze Familien mit Frauen und Kindern "ausgelöscht". Heute ist aus MfS-Akten bekannt, dass es mindestens 2000 Fluchtversuche von DDR-Bürgern über die bulgarischen Grenzen gab. Doch bisher sind erst 17 ostdeutsche Opfer des bulgarischen Grenzregimes namentlich bekannt.

Kein einziger der Todesschützen unter den bulgarischen Grenzern wurde bis heute rechtskräftig verurteilt, ebenso wenig wie die politisch verantwortlichen früheren Mitglieder des Politbüros der BKP. Im Gegensatz zu anderen Ostblockländern blieben die "Anweisungen zum Schusswaffengebrauch im Grenzgebiet" in der Balkanrepublik auch nach der Wende jahrelang unverändert in Kraft. Das musste auch die deutsche Botschafterin Christel Steffler erleben: Im Sommer 1994 wurde sie von der bulgarischen Polizei von einer Fahrt ins Grenzgebiet abgehalten, weil ihr die dazu erforderliche "Sondererlaubnis" fehlte.

"Das sind DDR-Bürger, die im Ausland ums Leben kamen"

In der Bundesrepublik ist das Interesse für die Aufarbeitung dieses tragischen Kapitels der deutsch-deutschen Geschichte bisher gering. So gelten jene DDR-Bürger, die bei Fluchtversuchen über die "verlängerte Mauer" im Ausland ums Leben kamen, bis heute nicht als Opfer des DDR-Regimes - der Gesetzgeber hat diesen Personenkreis schlicht übersehen. Bis heute fühlt sich niemand zuständig, die sterblichen Überreste dieser Flüchtlinge, soweit ihre Gräber überhaupt bekannt sind, in die Bundesrepublik zu überführen.

Die Gräber all jener an der bulgarischen Grenze erschossenen Deutschen, die in den achtziger Jahren in die DDR überführt und dort beigesetzt wurden, dürfen wegen fehlender Rechtsgrundlage bis heute nicht in "Opfergräber" umgewandelt werden und können damit nicht auf Dauer als Gedenkstätten erhalten werden. Diese Toten seien keine Opfer totalitärer Gewaltherrschaft, sagte die zuständige Sachgebietsleiterin in der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung auf Anfrage: "Das sind DDR-Bürger, die im Ausland ums Leben kamen."

SPON vom 07.11.2007, von Stefan Appelius

Montag, 5. Oktober 2009

Ärzte im Dienst der Stasi - Psychatrie, Zersetzung und Terror


Seit die Archive geöffnet sind, entdecken die Ostdeutschen in den Horror-Akten der Staatssicherheit, was der SED-Staat ihnen wirklich angetan hat: Nun geraten nicht nur Ärzte als Stasi-Helfer in Verdacht....

Die Geschichten der Opfer:

Ulrich Kasparik:

Den ersten Kontakt mit der Psychiatrie hatte der Jenaer Jugendpfarrer Ulrich Kasparick, 34, ganz freiwillig: Im Herbst 1988 meldete sich der Theologe zur Gruppentherapie in der Uni-Klinik. Zusammen mit neun anderen Patienten redete sich der Geistliche seinen Frust von der Seele, verbreitete sich über die Probleme seiner Ehe und plauderte bereitwillig über seine politischen Ansichten. Die waren von denen des SED-Regimes weit entfernt: Der Seelsorger Kasparick setzte sich in Jena offen für "feindlich-negative Kräfte" (Stasi-Jargon) ein, für Wehrdienstverweigerer und Ausreisewillige. Die Redseligkeit des Pfarrers erfreute vor allem die Jenaer Stasi: Eine linientreue Genossin, Mitglied der Psychogruppe, gab Kasparicks Geständnisse eifrig weiter - an ihren Mann, der unter dem Decknamen "Klaus" dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zuarbeitete.

Die Psychoplaudereien des Patienten Kasparick nutzte die Stasi, einen langgehegten Plan gegen den Pfarrer zu verwirklichen: Der Mann sollte vernichtet werden. Die "Erfüllung der Zielsetzung", heißt es in einem Vermerk des MfS, habe nach einem Neun-Punkte-Plan zu geschehen. Punkt eins: "Die öffentlichkeitswirksame Verbreitung" von Kasparicks Seelenleben. Letzter Punkt: Einweisung in die geschlossene Abteilung des Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie in Stadtroda. Nur die Wende rettete den Geistlichen davor, Jahre in einer geschlossenen Anstalt zu verdämmern. Wie im SED-Staat die Vernichtung von Menschen organisiert war, wird erstmals deutlich, seit die Opfer, die Erich Mielkes teuflische Maschinerie halbwegs unversehrt überstanden haben, in den Stasi-Akten der Gauck-Behörde ihre Geschichte rekonstruieren können. Die Ex-DDR-Bürger stoßen auf Horror-Akten über ihr eigenes Leben.

Fälle staatlichen Mißbrauchs der Psychiatrie, wie sie Kasparick erleben mußte, werden nun reihenweise bekannt. Die Hintergründe seiner Mißhandlung durch stasihörige Ärzte, niedergelegt auf 2800 Seiten MfS-Unterlagen, schilderte in der vergangenen Woche der sächsische Innenminister und ehemalige Pfarrer Heinz Eggert, 45, im deutschen Fernsehen vor einem Millionenpublikum. Seine Berichte darüber, wie er sich unter offenbar willkürlich injizierten Psychodrogen "kaum noch bewegen" konnte, erschütterten die Zuschauer derart, daß die Telefone zur ARD"Brennpunkt"-Redaktion wegen Überlastung blockiert waren.

Die Akten der Opfer enthüllen: Es war alles noch viel schlimmer im real existierenden Sozialismus, als es bisher vorstellbar schien. Nicht nur kleine Dichter wie Sascha ("Arschloch") Anderson vom Prenzlauer Berg haben das Vertrauen ihrer Umgebung mißbraucht und sich als Spitzel, Schnüffler und Hilfspetzer des Regimes einfangen lassen. Nicht einmal den Ärzten konnten die SED-Untertanen trauen - und den Anwälten ebensowenig.

Das Papier wird lebendig. Erst seit die Opfer die Akten filzen, wird vorstellbar, was der DDR-Geheimdienst mit dem Wort "Zersetzung" meinte. Das Wort kommt in den Unterlagen immer wieder vor. Im Stasi-Deutsch ging es um die "Bearbeitung operativer Vorgänge", mit der die "schädigenden Folgen und Auswirkungen subversiver Tätigkeit weitestgehend zurückgedrängt bzw. unterbunden" werden sollten. "Das Ziel der Zersetzung", ließ Mielke festlegen, bestehe darin, "die feindlich-negativen Kräfte zu zersplittern, zu lähmen, zu desorganisieren und zu isolieren" (siehe Kasten Seite 30). Um das Ziel zu erreichen, verfügte das MfS über einen militärisch organisierten Apparat. Der umfaßte zuletzt rund 100 000 hauptamtliche Mitarbeiter. Ihnen zur Seite stand nach Einschätzung hoher MfS-Offiziere ein Millionenheer von IM - laut Mielke-"Richtlinie * Am 2. Januar beim Studium ihrer Akten ) (in der Gauck-Behörde. ) Nr. 1/79" die "Hauptwaffe im Kampf gegen den Feind". Die hauptamtlichen Täter sind fast vollständig namentlich bekannt, vielen der IM droht nun Enttarnung.

Mit Spähern und Spitzeln überzog die SED ihr Volk wie mit einem Netz. Das gewährleistete die nahezu totale Überwachung der Gesellschaft. Dabei schnüffelte die Stasi überall, vor allem durch "zielgerichtete konspirative Gewinnung von Informationen mit hoher Qualität und Aussagekraft zur Bekämpfung aller subversiven Angriffe des Feindes" (Mielke-Richtlinie). Eingesetzt und instruiert wurden hochrangige Spitzel direkt von der Zentrale in der Ost-Berliner Normannenstraße. Die 15 Bezirksverwaltungen und mehr als 200 Kreisdienststellen der Stasi hatten zudem ein eigenes Kundschafter-Netz aufgebaut. Zuträger waren ungezählte SED-Funktionäre ebenso wie Blockparteien-Vordere, Betriebs- und Landwirtschaftsleiter sowie Kaderchefs. Der Geheimdienst hatte überdies ungehinderten Zugang zu allen Datenträgern und Speichern. Für die "Zersetzung" ihrer Gegner war der Stasi nahezu jedes Mittel recht - bis hin zur physischen Vernichtung, wie der Fall des früheren Pastors Eggert zeigt.

Pastor Eggert

Seit 1974 amtierte der evangelische Pastor, ein gebürtiger Rostocker, in dem verlotterten Kurörtchen Oybin im Zittauer Gebirge an der Grenze zur Tschechoslowakei. Dort zog der streitbare Theologe sonntags als Kanzelredner über die SED-Regenten her.

Solche Brüder hatte die allgegenwärtige Stasi besonders gern. Jahrelang protokollierten ihre Spitzel die Predigten des Gottesmannes, belauschten sein Telefon und lasen die Post mit. Inoffizielle Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes ließen sich in Scharen seelsorgerisch beraten und versuchten so den Pastor auszuhorchen; selbst die Eggert-Kinder wurden von Stasi-Zuträgern unter Mitschülern gezielt beobachtet. Als Eggert zu allem Überfluß auch noch, im Nebenamt, Studentenpfarrer in Zittau wurde, begnügte sich das Mielke-Ministerium nicht länger nur mit Observation. Der Dresdner Stasi-Bezirkschef Horst Böhm ordnete 1982 an, "zielstrebig und wirksam mit operativen Maßnahmen die Phase des Zersetzungsprozesses" gegen den Pfarrer zu beginnen. Das Unglück nahm 1983 seinen Lauf beim Camping der sechsköpfigen Familie an der Ostsee. Die Stasi war auf den Urlaub bestens vorbereitet. Als die Eggerts am 20. Juli in Bansin bei Wolgast eintrafen, wurden sie schon erwartet. Per Geheimtelex hatte die Dresdner MfS-Bezirksverwaltung die Kollegen in Rostock um Amtshilfe gebeten. Die Bitte wurde gewissenhaft erfüllt. Eggert konnte auf dem Zeltplatz kaum einen Schritt ohne seine Bewacher tun. Die Spitzel kümmerten sich weisungsgemäß um "Fotodokumente vom Aufenthalt des E. am Fkk-Strand", "Feststellung von Kontaktpartnern" am Campingplatz sowie eine "Einschätzung des Verhaltens von E. und dessen Ehefrau während des Urlaubs".

Die ersten Folgen der Ferien zeigten sich auf der Heimfahrt nach Oybin. Eggert erkrankte an Fieber, krampfartigen Leibschmerzen und schmerzhaftem Stuhldrang. Tagelang entleerte sich blutig-schleimiger Durchfall. In den nächsten Wochen steckte der Pfarrer seine ganze Familie an. Was zunächst wie eine sommerliche Darmgrippe erschienen war, diagnostizierten Ärzte schließlich zu ihrer Überraschung als Ruhr. Ruhr ist eine vergleichsweise seltene Infektionskrankheit, die durch ein Dutzend unterschiedlicher Bakterien ausgelöst werden kann. Die Keime werden mit Wasser, Milch oder anderen Lebensmitteln aufgenommen, ohne daß der Patient dies schmeckt oder riecht.

Nur bei extrem unsauberen Hygieneverhältnissen verbreitet sich die Ruhr rasch; unter europäischen Lebensbedingungen haben die Erreger normalerweise keine Chance - es sei denn, sie werden vorsätzlich einem Nahrungsmittel beigemischt. Geschmacklose "Aufschwemmungen", sogenannte Bakterienkulturen, werden, vor allem zu diagnostischen Vergleichszwecken, von vielen Hygieneinstituten vorrätig gehalten. Einen Beweis, daß die Stasi ihm vorsätzlich Ruhrbakterien in die Nahrung mischte, hat Eggert beim Aktenstudium bislang nicht gefunden. Sicher ist nur, daß er nach einer Geburtstagsparty an der Ostsee als einziger unter den Campingfreunden erkrankte. Die Ruhr kam der Stasi jedenfalls gut zupaß.

Nach der Genesung vom gefährlichen Darmleiden ("Unsere kleine Tochter wäre daran fast gestorben") verfiel Eggert in tiefe Depression mit Selbstmordideen. Das kommt, besonders bei dynamischen Fightern wie Eggert, nach lebensbedrohlichen Krisen immer mal vor. Gewöhnlich erholen sich tatkräftige Persönlichkeiten von einer solchen "reaktiven Depression" innerhalb weniger Tage oder Wochen. Nicht so Eggert. Die Stasi leitete den Patienten geschickt zum Psychiater Reinhard Wolf, Leiter der Männerpsychiatrie am Krankenhaus in Großschweidnitz. Wolf, der Eggert von IM im Freundeskreis als "besonders vertrauenswürdiger Arzt" empfohlen worden war, wurde beim MfS unter dem Decknamen "Manfred" geführt. Stasi-Bewertung: "zuverlässig und ehrlich", "ist sehr auf Einhaltung der Konspiration bedacht".

Die Falle schnappte zu: Nach einem Beratungsgespräch im April 1984 durfte der Regimegegner die Klinik nicht mehr verlassen. Eggert wurde in eine Zwangsjacke geschnürt, auf die geschlossene Station verfrachtet und mit Psychodrogen vollgespritzt. Diese in der sowjetischen Breschnew-Ära üblich gewordene "Therapie für Dissidenten" führt dazu, daß Lebenswille und Beweglichkeit, aber auch Emotionen und Verstand maximal gedämpft werden. Mancher wird, wenigstens vorübergehend, durch die Therapie verrückt. In "wahnsinniger Todesangst", an Händen und Füßen ans Bett geschnallt, willigte Eggert schließlich in eine Behandlung ein. Unter Aufsicht eines Pflegers hatte er weiterhin jeden Tag ein "halbes Glas Tabletten" zu schlucken.

Wie sorgsam die Stasi den Klinikaufenthalt ihres Feindes geplant hatte, belegt eine Reihe von Aktenvermerken (Operativer Vorgang "Fürst"). Danach hat das MfS den behandelnden Ärzten einen minuziösen Fragenkatalog für die Therapiesitzungen an die Hand gegeben. Die Mielke-Truppe interessierte sich vor allem für "sexuelle Ambitionen", Eheprobleme und die "finanzielle Lage" des Geistlichen. Eggert: "Die wollten Dinge herausbekommen, mit denen ich später erpreßbar sein würde."

Die Tonbandprotokolle der vertraulichen Arztgespräche fand Eggert nun in seinen Stasi-Akten wieder. Auch Kopien der Krankenberichte hatte die Klinik-Leitung routinemäßig an die Spitzelbehörde geschickt. In den stundenlangen Therapiesitzungen suchte Nervenarzt Wolf damals seinem Patienten einzureden, daß die Schwermut nie wieder völlig verschwinden werde, Eggert also Invalide bleibe mit reduzierter Arbeitskraft. Das Amt als Studentenpfarrer müsse er, seiner geistigen Gesundheit zuliebe, unbedingt aufgeben. Auch Eggerts Frau und die sächsische Kirchenleitung wurden unterdessen darauf vorbereitet, daß der engagierte Pfarrer allenfalls "bis zu 50 Prozent belastbar" sein werde.

Sechs Wochen mußte Eggert die medizinische Umerziehung zum Sozialfall in Großschweidnitz erdulden, für die Zeit danach hatte die Stasi schon vorgesorgt: Ihm wurde aufgetragen, jeden Tag seine Ration Psychopharmaka zu schlucken und regelmäßig zur Kontrolle zu erscheinen. Nach seiner Entlassung tat Eggert, was andere Psychiatriepatienten auch gern tun: Er schmiß alle Tabletten, "einen ganzen Sack voll", in den Müll. So wurde er wieder der Alte, traktierte in seinem Bergkirchlein mit starken Luther-Worten Gläubige und Spitzel und übernahm nach der Wende als Landrat auch die weltliche Macht in seinem Sprengel. Der Bannstrahl der Herrschenden traf nicht nur Dissidenten und mißliebige Kirchenleute. Wenn dem Regime ein Bürger unangenehm auffiel, verschwand er oft schon wegen harmloser politischer Kritik hinter Anstaltsmauern.

Paul Kaden

Dem inzwischen verstorbenen Berliner SED-Funktionär Paul Kaden stank die Politik seiner Partei seit langem. Zu den Kommunalwahlen im Mai 1989 machte der Genosse, damals 77, seine Kritik öffentlich: Er verteilte Protestschreiben gegen den SED-Kandidaten seines Bezirks. Die Parteigenossen reagierten prompt: Sie ließen Kaden in die Ost-Berliner Zentralklinik für Psychiatrie und Neurologie "Wilhelm Griesinger" einweisen. Zwei Wochen lang wurde Kaden dort festgehalten. Erst nach dem Wahltag konnte er die Klinik verlassen.

Detlev Jochum

Richtig verrückt hat die Stasi den Berliner Detlev Jochum, 52, gemacht. 13 Jahre lang wurde der Mann in den Psychiatrien der DDR verwahrt, zuletzt im berüchtigten Haus 213 der forensisch-psychiatrischen Abteilung des Ost-Berliner Klinikums Buch. Schon früh, im Alter von 24 Jahren, war Jochum mit seinem Staat in Konflikt geraten. Wegen versuchter Republikflucht saß er für knapp drei Jahre in Bützow/Dreibergen ein. "Im Knast habe ich dann irgendwann mal fallengelassen", erzählt Jochum, "daß ich das soziale und wirtschaftliche System der Bundesrepublik besser als unseres finde." Zwei Mithäftlinge, darunter ein FDJ-Sekretär, der wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern einsaß, verpfiffen ihn. Wegen "staatsgefährdender Propaganda und Hetze" bekam Jochum vom Bezirksgericht Schwerin 1965 weitere 16 Monate Haft. Als der Verurteilte Berufung einlegte, wurde er - "Arme mit Handschellen auf den Rücken gefesselt" (Jochum) - von Schwerin zur psychiatrischen Untersuchung in die 500 Kilometer entfernte sächsische Klinik Waldheim transportiert. Das berüchtigte Krankenhaus, das dieses Frühjahr geschlossen werden soll, ist in den vergangenen zwei Jahren mehrfach wegen Patientenmißhandlungen und verbotener Eingriffe wie Zwangssterilisationen in die Schlagzeilen geraten.

In Waldheim befand der Psychiater Manfred Ochernal nach einem halbstündigen Gespräch mit Jochum, der Patient sei ein Lügner. "Das ging unheimlich fix", erinnert sich Jochum, "zum Schluß sagte mir Ochernal, daß er sich doch nicht gegen Belastungszeugen wie den FDJ-Sekretär stellt. Denn der würde im zivilen Bereich in wichtigen gesellschaftlichen Funktionen wirken." Fünf Monate wurde Jochum in der geschlossenen Psychiatrie Waldheim festgehalten und - gegen seinen Willen - mit Psychopharmaka behandelt. Nach seiner Entlassung hatte der DDR-Bürger Jochum im real existierenden Sozialismus keine Chance mehr. Seinen Job als Wirt des Klubrestaurants im Kreiskulturhaus Erich Weinert in Berlin-Pankow verlor er rasch wieder, als seine Vergangenheit ruchbar wurde. Beim Streit um die Kündigung soll Jochum das Wort "Kommunistenschweine" benutzt haben. Das reichte, ihn abermals in die Psychiatrie zu bringen.

Diesmal fuhr ihn die Stasi direkt ins Haus 213 nach Buch. "Wenn Sie noch einmal strafrechtlich in Erscheinung treten", drohte nach Jochums Erinnerung eine Ärztin, "dann müssen wir Sie mit medizinischen Mitteln umerziehen." Keine leere Drohung: Als Jochum, kaum entlassen, eine Freundin, die für das MfS arbeitete, zum Ausstieg aus dem Schnüffeldienst überredete, sperrte ihn die Stasi in Buch gleich für mehrere Jahre weg. Erst 1984 kam er "völlig gebrochen und dann wirklich krank" (Jochum) aus Buch frei. Vor seiner Entlassung hatte er eine Erklärung zu unterschreiben, daß er fortan der "Staats- und Militärmacht DDR loyal dienen" werde. Ärzte, die dem Regime wider alle Standesregeln willfährig waren, fand die Stasi stets genug.

(Quelle: Spiegel.online 1992)


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Sonntag, 4. Oktober 2009

Stasi-Opfer berichten Teil 7- Gisela Mauritz -

Zwangsadoptionen in der DDR

1970 kam ihr Sohn Alexander zur Welt; Gisela Mauritz entschied sich, den Vater nicht zu heiraten und das Kind allein großzuziehen.

Freunden aus der Greifswalder Zeit gelang 1973 mit einem Fluchthilfeunternehmen der Weg in die Bundesrepublik. Nachdem sie ihren geflohenen Freunden in einem Brief »konspirativ«, wie sie sagt, ihre Entschlossenheit zur Flucht mitgeteilt hatte, unterrichteten diese eine Fluchthilfe­organisation. Ein nach Ost-Berlin entsandter Kurier teilte ihr Codes und nähere Angaben zu der geplanten Flucht mit.

Sie sollte mit ihrem kleinen Sohn an der Transitstrecke von Berlin nach Marienborn aufgenommen und in den Westen geschmuggelt werden. Zwei Versuche schlugen fehl, weil die »Ausschleusungsfahrzeuge« aus dem Westen nicht erschienen. Beide Male fuhr sie zurück in ihre Wohnung nach Ost-Berlin. Sie ahnte nicht, daß sie bereits in das Blickfeld der Stasi geraten war. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte fast alle Fluchthilfe­unternehmen mit Agenten durchsetzt.

Bei dem dritten Fluchtversuch wurden Gisela Mauritz und ihr Sohn auf der Transitstrecke Marienborn von einem Lkw aufgenommen; das Kind hatte sie mit Valium beruhigt. Am Grenzübergang Marienborn erfolgte eine Ladungskontrolle, bei der ihr mit einer elektromagnetischen Klappe gesichertes Versteck von der Stasi zwar gefunden, aber zunächst nicht geöffnet werden konnte. Nach massiven Drohungen verließ sie ihr Versteck; sie wurde mit ihrem Kind in Stasi-Baracken abgeführt, das Fahrzeug durchsucht. Vom Schicksal des Fahrers erfuhr sie nichts - auch nicht, ob er die Flucht verraten hatte.

Am folgenden Tag, dem 14. Juni 1974, wurde ihr noch vor der Abfahrt nach Berlin der vierjährige Sohn weggenommen. Sie sollte ihn fast 15 Jahre nicht wiedersehen. Gisela Mauritz kam in die Untersuchungshaft nach Hohenschönhausen. Dort hörte sie erstmals von der Möglichkeit, daß politische Häftlinge der DDR von der Bundesregierung freigekauft werden konnten.

Obwohl sie das alleinige Erziehungsrecht für Alexander hatte, verweigerte man ihr jede Auskunft über den Verbleib des Kindes. Der Junge sei, so die Stasi in den Verhören, »gut aufgehoben«, und auf bohrende Nachfragen von Gisela Mauritz reagierte die Stasi mit erbarmungslos harten, über viele Stunden geführten Verhören, bis sie schließlich zusammenbrach.

Im August 1974 wurde Gisela Mauritz nach Magdeburg verlegt, ihr Prozeß für September angesetzt. Sie mußte befürchten, daß sie zu einer zweijährigen Haft verurteilt werden würde. Als mögliche Verteidiger legte man ihr drei Namen vor; sie entschied sich für den ihr persönlich nicht bekannten Rechtsanwalt Vogel, der ihre Vertretung jedoch nicht persönlich übernahm. Etwa eine Woche vor Prozeßbeginn erschien an Vogels Stelle sein Mitarbeiter G. und führte mit ihr ein halbstündiges Gespräch. Fragen zur Sache stellte er nicht, vielmehr zeigte er sich wohl wegen der Abhörung durch die Stasi »ängstlich und eingeschüchtert«.

Knapp zwei Wochen vor dem 25. Jahrestag der DDR-Gründung, am 24. September 1974, fand der Prozeß gegen Gisela Mauritz statt. Die Angeklagte nutzte die Gerichtsverhandlung zu einer »befreienden Rede«, in der sie die DDR direkt angriff. Sie habe, so ihr Anwalt, die Sache dadurch nur noch schwieriger gemacht. Dagegen hielt er nach Ansicht von Gisela Mauritz »ein ganz unzulängliches Plädoyer«, das keine wirkliche Verteidigung dargestellt habe; nicht einmal das Kind sei erwähnt worden. Das Urteil lautete auf viereinhalb Jahre Zuchthaus. Gisela Mauritz schoß in diesem Augenblick nur der Gedanke durch den Kopf: Was wird aus meinem Kind?

Eine Woche später wurde sie ins Zuchthaus Hoheneck transportiert. Sie traf Mitgefangene, die wegen versuchter Republikflucht zu noch längeren Haftstrafen verurteilt worden waren. Sie wurde einerseits durch weitere Informationen über Freikäufe ermutigt, andererseits hörte sie erstmals davon, daß Müttern aus politischen Gründen die Kinder weggenommen und an andere Familien zur Adoption gegeben worden waren.

Ende 1974 erhielt sie die Vorladung zu einem Termin in Berlin - das Referat Jugendhilfe beim »Rat« ihres zuständigen Stadtbezirks wollte ihr das Erziehungsrecht für den Sohn Alexander wegnehmen. Auch dieses Mal wandte sie sich in ihrer Angst vergeblich an Rechtsanwalt Vogel. Noch in Hoheneck fertigte sie Ausarbeitungen zu ihrer Verteidigung, aber die Anstaltsleitung nahm ihr die Unterlagen weg.

Nach Berlin verlegt, wurde sie dort gemeinsam mit Kriminellen inhaftiert. Bei dem Prozeß um das Sorgerecht, der im März 1975 stattfand, war kein Vertreter des Anwaltsbüros Vogel anwesend. Eine Möglichkeit zur eigenen Verteidigung und zur Verteidigung ihres Kindes erhielt sie nicht. Das Referat Jugendhilfe warf ihr im besonderen vor, daß die bei dem Fluchtversuch zur Beruhigung Alexanders verwendete Spritze aus der Bundesrepublik gekommen sei, und die Richterin verstieg sich zu der Unterstellung, daß die Injektion auch Zyankali hätte enthalten können.

Von Gisela Mauritz benannte Zeugen, die das gute Mutter-Kind-Verhältnis bestätigen wollten, durften nicht aussagen. Bei dem zweiten Gerichtstermin, der vier Wochen später stattfand, wurde sie von Rechtsanwalt Starkulla, einem Mitarbeiter Vogels, verteidigt. Obwohl sie ihn vorher nicht gesehen hatte, habe er, so Gisela Mauritz, seine Sache »gut« gemacht. Da sie seit dem Fluchtversuch mithin seit zehn Monaten ohne Nachricht von ihrem Kind war, forderte der Anwalt Auskunft über Alexanders Verbleib. Der Vorstoß blieb ergebnislos: Gisela Mauritz wurde das Erziehungsrecht für ihren fünfjährigen Sohn entzogen. Ihr Anwalt riet ihr von einer Berufung ab offenkundig wolle man an ihr ein Exempel statuieren.

Gisela Mauritz, inzwischen nach Hoheneck zurückgebracht, wollte auf die letzte Chance der Berufung aber nicht verzichten und hoffte, daß ihr Sohn an die Großeltern gegeben würde. Im Berufungstermin, der bereits im August 1975 stattfand, ließ das Referat Jugendhilfe anklingen, daß Alexander sich bei einer »betreuenden Familie« befinde. Noch vor der Urteilsverkündung wurde Gisela Mauritz nach Hoheneck zurückgebracht.

Eine Freundin half ihr mit einem kleinen, aber für die verzweifelte Frau wichtigen Dienst. Aus der Ferne konnte die Freundin den kleinen Alexander sehen, als seine Kinderheimgruppe zu einem Ausflug auf den Ost-Berliner Alexanderplatz kam. Die Furcht vor der Stasi veranlaßte die Freundin, den Rückweg der Kinder nicht zu verfolgen. So blieb der Aufenthalt des Jungen unbekannt. Die Freundin konnte ihn lediglich aus der Distanz fotografieren; das Foto brachte sie der Mutter bei einem Besuch in der Haft mit. Gisela Mauritz fand, daß ihr Alexander jetzt wie ein »sozialistischer Soldat« aussehe. Für viele Jahre sollte ausgerechnet dieses Foto das letzte Lebenszeichen sein, das Gisela Mauritz von ihrem Kind hatte.

Kurz vor Weihnachten 1976 Gisela Mauritz kann auch im Rückblick von 20 Jahren nicht an einen jahreszeitlichen Zufall glauben, sondern nimmt puren Zynismus an wurde ihr in der Haftanstalt Hoheneck die Zwangsadoption ihres Kindes eröffnet. Die von ihr nie für möglich gehaltene Nachricht löste einen Schock aus. Sie brach mit Weinkrämpfen zusammen und »drehte«, wie sie es selbst beschreibt, in ihrer mit 24 Frauen belegte Zelle »völlig durch«, bis sie vom Wachpersonal medikamentös ruhiggestellt wurde. Als sie nach Wiederaufnahme der Arbeit Elektromotoren vom Tisch warf, galt dies als »Sabotage«.

Die Beruhigungsversuche endeten auf der Krankenstation. Gisela Mauritz erlebt die folgenden Tage im Trancezustand. Als sie zu sich kam, fand sie sich dort ausschließlich von Häftlingen umgeben, die wegen krimineller Straftaten verurteilt waren. Als der Chefarzt ihren schlechten Zustand und ihre seelischen Nöte bemerkte, meinte er nur: »Sie müssen das Problem so sehen: Wenn ein Ziegel vom Dach fällt, dann ist er weg. So einfach ist das auch mit Ihrem Sohn.« Für Gisela Mauritz lautete die Folgerung dieser ärztlichen Bemerkung: Ob Ziegel oder Sohn, sie sind einfach weg, du mußt es hinnehmen.

Gisela Mauritz versuchte eine Neuorientierung; sie besann sich, verzichtete auf weitere, sinnlose Protestaktionen und faßte den Entschluß, den Kampf um ihr Kind wieder aufzunehmen - zunächst ohne irgendein Ergebnis. Der Präsident des Roten Kreuzes der DDR, an den sie sich wandte, schrieb ihr, er könne in dieser Sache nicht tätig werden, und auch von Rechtsanwalt Vogel erhielt sie eine nichtssagende Antwort.

Als sie Anfang 1977 Besuch von einer Cousine aus West-Berlin erhielt, hörte sie, daß Alexander angeblich nicht adoptiert worden sei. Gisela Mauritz verlangte daraufhin den Haftstätten-Anwalt, und seine Reaktion ließ sie hoffen - nein, ihr Kind sei nicht adoptiert. Sie war völlig verwirrt. Die Nachricht erwies sich später als falsch.

Immer noch, drei Jahre nach der Verhaftung, hoffte sie auf die Abschiebung in den Westen. Die Hoffnung schien sich tatsächlich zu erfüllen, als sie im Juni 1977 nach Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz) in die Abschiebehaft verlegt wurde. Noch von Hoheneck hatte sie ein Gespräch mit ihrem Anwalt erbeten, aber sie erhielt diesen Beistand auch nicht, als man ihr in Karl-Marx-Stadt einen Fragebogen präsentierte, der u. a. die Frage nach Kindern enthielt. Sie gab wahrheitsgemäß ihren zu diesem Zeitpunkt siebenjährigen Sohn Alexander an. Der Vernehmer reagierte ebenso verständnislos wie abweisend - von diesem Kind wisse man nichts. Sie wurde in die Zelle zurückgeführt und schließlich wieder nach Hoheneck gebracht - ihr Ausreiseantrag war abgelehnt worden. Sie brach erneut zusammen und kam auf die Krankenstation. Ihr körperlicher Gesundheits­zustand war bedenklich, und sie schien psychisch gebrochen.

Gisela Mauritz aber gab nicht auf. Immer wieder zwang sie sich auf die Beine, sie wollte ihr Kind, und sie wollte ihren Peinigern den Triumph eines weiteren Zusammenbruchs nicht gönnen.

Am 13. Dezember 1978 wurde Gisela Mauritz in die DDR entlassen - für sie ein neuer fürchterlicher Schlag. Bis zuletzt hatte sie gehofft, Rechtsanwalt Vogel würde sie »im Auto abholen und ohne Aufsehen in den Westen fahren«. Mit ihrer Haftentlassung war ein Aufenthaltsverbot für die »Hauptstadt der DDR« verbunden. In Döbeln, auf halber Strecke zwischen Leipzig und Dresden, wurde ihr bei der Firma ELMO eine Arbeit als Gewindeschneiderin zugewiesen. Da gegen die diplomierte Chemikerin kein Berufsverbot ergangen war, wandte sich Gisela Mauritz erneut an Rechtsanwalt Vogel und erhielt vorübergehend eine Stelle in einem chemischen Betrieb - ausgerechnet im Bereich »Politökonomie«.

Nach einem halben Jahr wechselte sie aus eigenem Antrieb als Requisiteuse und Souffleuse an das dortige Theater. Die an Erich und Margot Honecker sowie das ZK der SED gerichteten Bittbriefe, ihr den Sohn Alexander zurückzugeben, blieben unbeantwortet. Der Versuch, Rechtsanwalt Vogel einzuschalten, wurde durch das ihr auferlegte Berlin-Verbot behindert. Einen Vertreter schickte das Büro nicht, sondern forderte einen »Kurier«. Ein Bekannter von Gisela Mauritz aus Ost-Berlin suchte Rechtsanwalt Vogel auf, aber sein Besuch in der Anwaltskanzlei blieb ergebnislos. Als der Bekannte das Desinteresse und die Passivität von Rechtsanwalt Vogel erkannte und kritisierte, wurde er aus der Kanzlei verwiesen.

Schließlich fuhr Gisela Mauritz auf Vorladung von Rechtsanwalt Vogel Ende 1979 selbst nach Ost-Berlin. wohlwissend, daß sie sich wegen der gegen sie verhängten Auflage nach den DDR-Gesetzen erneut strafbar machte. Von Vogel persönlich zum Gespräch empfangen, sah sie sich, so im Rückblick, von seinem so ganz DDR-untypischen Gebaren »eingeschüchtert«; sie habe ihn »eiskalt« erlebt.

Für ihn sei sie offenkundig eine »kleine Bittstellerin« gewesen - von ihm, so ihr Eindruck, habe sie »nichts zu erwarten gehabt«. Vogel forderte sie auf, im nachhinein ihr Einverständnis zu der Adoption zu geben - für diesen Fall stellte er das ersehnte Wort »Ausreise« in den Raum, nicht ohne den Hinweis, daß sie auf alle Aktivitäten im Westen verzichten und eine entsprechende Zusage geben müsse. Gisela Mauritz merkte, daß die DDR »in meiner Sache absolut nichts mehr« zuließ.

Sie gab Vogel die geforderten Erklärungen und Zusagen und kehrte nach Döbeln zurück.

Auf eine positive Reaktion wartete sie vergeblich im Gegenteil: Im Dezember 1980 wurde sie erneut verhaftet.

Während ihrer ersten Haft hatte sie die in den Westen entlassenen Mitgefangenen gebeten, von ihrem Fall zu erzählen. Daraufhin nahm kurz nach ihrer Haftentlassung der Missionsbruder Theo Koening aus Hiltrup bei Münster/W. Kontakt mit ihr auf so wie »Bruder Theo« für viele »Politische« in der DDR und ehemalige Gefangene, die in den Westen gehen durften, seelischer Beistand und selbstloser Betreuer war. Er hatte der in Döbeln »von allen getrennten« Gisela Mauritz in zwei Jahren etwa 30 Briefe und Pakete geschickt; für die faktisch Isolierte war die menschliche Zuwendung von Bruder Theo, den sie ja gar nicht kannte, »ganz wunderbar«. Da Bruder Theo mit >Hilferufe von drüben, Zeitungen, Rundfunksender, ganze Schulklassen nahmen sich ihrer Sache an. Bei einem persönlichen Besuch im Bonner Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen versuchte sie, ihre Sache weiter voranzubringen, aber für den Rat des zuständigen Mitarbeiters, Ruhe zu bewahren, hatte sie kein Verständnis. Sie sei 14 Jahre ruhig gewesen, erwiderte Gisela Mauritz, jetzt werde sie handeln.

Der Durchbruch kam mit einer Sendung von »Report München« im Januar 1989. »Report« berichtete über ihren Fall - »Mutter West sucht Sohn Ost« - und zeigte alte Fotos. Der Hinweis auf eine Verbrennungsnarbe, die sich Alexander als Kleinkind zugezogen hatte, war entscheidend. Eine Zuschauerin aus Ost-Berlin, die als Rentnerin in den West-Teil der Stadt reisen durfte, meldete sich und gab den Hinweis. Zwei Tage nach der Sendung erhielt Gisela Mauritz einen Anruf aus dem Innerdeutschen Ministerium, das ihr den Namen und die Adresse der Adoptiveltern mitteilen konnte. Gisela Mauritz telefonierte und schrieb sofort dorthin, erhielt aber am Telefon die schroffe Antwort, die Sache solle sie mit dem Anwalt der Adoptiveltern klären. Das Innerdeutsche Ministerium sagte zu, ein Treffen zu arrangieren. Sie begab sich in die Kanzlei des West-Berliner Anwalts Naumann. Dort wurde sie von Frau Vogel mit dem Wagen abgeholt; Naumann begleitete sie. In Vogels Kanzlei kam es nach mehr als 14 Jahren zur ersten Begegnung zwischen Mutter und Sohn. Gisela Mauritz, gezeichnet von den Erfahrungen dieser Jahre, konnte kaum sprechen, Alexander, der keine Erinnerung an seine leibliche Mutter mehr hatte, zeigte sich hilflos. Rechtsanwalt Vogel, den sie auf die im Mai 1988 abgepreßte Verzichtserklärung ansprach, bestritt seine Rolle entschieden. Nach einer Stunde kehrten Mutter und Sohn in ihre getrennten Welten zurück. Gisela Mauritz konnte ihm in den nächsten Wochen über das Anwaltsbüro Vogel schreiben und Pakete schicken, der Sohn auf demselben Weg antworten.

Im April 1989 erhielt sie die Mitteilung, Alexander habe sich für die Ausreise in den Westen entschieden. Aus dem Innerdeutschen Ministerium folgte die Aufforderung, sie möge sich am Abend des 11. April 1989 in ihrer Wohnung aufhalten. Alexander erschien in Begleitung seines Adoptivvaters, der Gisela Mauritz noch einen Rechtfertigungsbrief übergab.

Nach endlosen schlimmen Erfahrungen konnte Gisela Mauritz ihren Sohn in die Arme schließen. Die Freude wich aber bald bitterer Enttäuschung. Es zeigte sich, daß die von dem SED-Regime erzwungene fast 15jährige Trennung die Basis für eine normale Beziehung zwischen Mutter und Sohn zerstört hatte.

Quelle: http://www.utopie1.de/enbergs/aretz_opfer1.htm


Freitag, 2. Oktober 2009

Zwangsadoption in der DDR - Kidnapping per Gesetz


Zwei Jahre nach dem Fall der Mauer kommt eines der dunkelsten Kapitel der DDR-Geschichte ans Licht. In Zeitungspapier eingewickelte Schriftstücke aus den Archivkellern des Bezirksamtes Berlin-Mitte beweisen, was Ost- und Westpolitiker jahrelang geleugnet hatten: In der DDR wurden Kinder auf Veranlassung des Staates, ohne Einwilligung der leiblichen Eltern, zwangsadoptiert.

Das Thema war keinesfalls neu. Bereits 1975 berichtete der „Spiegel“ über die Praxis der gewaltsamen Familientrennung „Wegen Republikflucht Verurteilter und von der Bundesrepublik freigekaufter Eltern“. Die Veröffentlichung führte zu einem Eklat, der die innerdeutschen Beziehungen schwer belastete. Der Spiegel-Korrespondent in Ost-Berlin wurde ausgewiesen, der ständige Vertreter der DDR in Bonn kurzfristig vor seinem Antrittsbesuch ausgeladen. Helmut Schmidt sah die Unterzeichnung des Verkehrsabkommens mit der DDR schwinden, die DDR sprach von einer „groß angelegten Hetzkampagne“.

Die 16 Jahre später in Berlin gefundenen Aktenordner belegen detaillierte Schicksale. In mehreren Fällen wurde von 1961 bis1989 Eltern aus politischen Gründen, meist unter dem Vorwurf der Republikflucht oder der Spionage, das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen. Hauptverantwortlich: die damalige Ministerin für Volksbildung Margot Honecker. In der DDR eine mächtige Frau. Das musste auch Petra Köhler erfahren.

Mit den Lebensumständen in der DDR unzufrieden, rebelliert sie, versucht, die DDR auf legalem Weg zu verlassen, stellt mehrere Ausreiseanträge. Und gerät dadurch ins Visier des Staatssicherheitsdienstes. Petra Köhler wird mehrfach vorgeladen, soll die Antragsstellung unterlassen. Belehrungen . Drohungen. Die Stasi weist der jungen Mutter eine Altbauwohnung zu, ohne Bad, an den Wänden wächst der Schimmel. Als sie sich beschwert und den Gang an die Wahlurne verweigert , lernt sie eine der perfiden Stasimethoden, die so genannte “Assi-FalleStufe 1“, kennen: Ihr werden alle Rechte der DDR aberkannt, sie verliert ihren Job und darf nur noch das machen, was die Abteilung Inneres des Kreises Gera ihr zuweist. In ihrem Fall: Kartons kleben.

Die „Assi-Falle“ ist auch für Uwe Hilmer von der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstrasse kein Fremdwort: „Das viel gerühmte Recht auf Arbeit hatte auch eine dunkle Seite die Verpflichtung zur Arbeit. Wenn jemand aus seinem Beruf entfernt wurde, dann war es für ihn wichtig, dass er so schnell wie möglich wieder Arbeit fand. Ansonsten hätte unterstellt werden können, dass er asozial lebte. Und Asoziale hatten natürlich auch das Recht zur Erziehung ihrer Kinder verwirkt. War es so weit, begannen die Mühlen des Apparates zu mahlen.“

Im Fall Petra Köhler mahlen sie besonders gründlich. Da sie sich gegen die „Diktatur des Proletariats“ wehrt, greift Stufe II der “Assi-Falle“. Im Februar 1981 wird ihr, veranlasst durch den Staat, in der Kinderkrippe Gera ihr Sohn weggenommen. Über die Mauer der Krippe hinwegversucht sie Kontakt mit Enrico aufzunehmen. Eine Kindergärtnerin entdeckt sie, informiert die Stasi. „15 Minuten späterhaben sie mich geholt.“ Die 21-Jährige kommt ins Geraer Stasigefängnis. Man verbietet ihr, sich noch einmal in die Nähe der Kindereinrichtung zu begeben, man droht mit Gefängnis, schlägt und tritt sie, auch in den Unterleib. „Das Kinderkriegenwürden sie mir austreiben, haben sie gesagt.“ Als Petra 1984 ihren zweiten Sohn Sven bekommt, erscheinen zwei Stasibeamte auf der Entbindungsstation. Sie sprechen eine deutliche Drohung aus: “Wenn ich mich dem Staat nicht beugen würde, dann sei er der Nächste.“

Aus Angst, auch ihren zweiten Sohn zu verlieren, zieht sie sich zurück. Sie verhält sich still, bekommt im Laufe der Jahre noch zwei Mädchen, Jeanette und Jaris. Enrico sieht sie nie wieder. Kein Fluchtversuch, kein illegaler Grenzübertritt. „im Gegensatz zu vielen anderen hatte sie lediglich versucht, die DDR auf legalem Weg zu verlassen“ . Der Fall von Petra Köhler ist keine Ausnahme. „Mir persönlich sind mehrere Fälle bekannt“, bestätigt Uwe Hilmer. “Ich glaube, ich begebe mich nicht auf unsicheres Gebiet, wenn ich sage, dass es wohl einige hundert Fälle gewesen sind.“
Anfang der 90er Jahre wird in Berlin eine Clearingstelle eingerichtet, um diese Adoptionsfälle zu überprüfen. Anlaufstelle auch für Petra Köhler. Nach der Wende nimmt sie die Suche nach ihrem Sohn wieder auf. Doch sie kommt nichtweit. Auf dem Jugendamt Gera arbeitet noch dieselbe Mitarbeiterin wie zu DDR-Zeiten.“ Dahin bin ich dann nicht mehr gegangen, weil die Frau, die in die Adoptionssache verwickelt war, dort noch gearbeitet hat. Da hätte ich mich nicht unter Kontrolle gehabt. Die hatte mir mein Kind weggenommen!“

2003 ist die Betreffende nicht mehr im Jugendamt tätig. Jetzt leitet Petra Köhler erneut die Suche nach Sohn Enrico ein. In einem Brief schreibt sie ihm, dass sie seine leibliche Mutter sei. Nach geltendem Adoptionsrecht darf sie nicht in direkten Kontakt mit ihm treten, das Jugendamt soll den Brief weiterleiten. Doch der größte Schock steht noch bevor. Petra Köhler soll schriftlich in die Adoption ihres Kindes eingewilligt haben. „Im Gefängnis haben sie mir Tablettengegeben. Mir fehlen einige Stunden eines Lebens „.“ Sie beantragt Akteneinsicht. Und tatsächlich wird Petra Köhler die Einwilligung in die Adoption vorgelegt. Unterschrieben mit ihrem Mädchennamen Hartmann. „Man hatte mir mal im Gefängnis mehrere Dokumente übern Tisch geschoben, aber die hab ich nicht unterschrieben, das weiß ich ganzgenau.“

Für Hilmer ist es durchaus denkbar, dass Dokumente gefälscht wurden. „Andererseits besteht aber auch die Möglichkeit, dass man sie in eine Situation gebracht hat, in der sie keine andere Möglichkeit mehr gesehen hat als zu unterzeichnen, um dieser Situation zu entkommen.“

Erst vor einigen Monaten erfährt Petra Köhler, warum ihr das Kind weggenommen wurde. Ausreiseanträge an sich waren nicht strafbar. Stattdessen wird ihr alles, was sie selbst kritisiert hatte, als Schuld angelastet. Ihre damalige schimmlige Wohnung, die der Staat ihr zugeteilt hatte, ihre Arbeitslosigkeit, nachdem der Staat ihr den Beruf aberkannt hatte.“Asozial“ lautete der Vorwurf, der dem Staat das Recht einräumte, auf Paragraph 249 des Strafgesetzbuchs zurückzugreifen: legitimierter Kindesentzug.

Wochen später hatte das Jugendamt den Brief an Enrico noch immer nicht weitergeleitet. Nur die Adoptionsakte liegt ihr nun als Kopie vor.
Schlüsselfigur in Sachen Zwangsadoption war Margot Honecker. Doch direkte Anweisungen von ihr an die Jugendhilfenlassen sich nicht nachweisen. Unbehelligt reist sie 1992 nach Chile aus. Auch der Leiter der Jugendhilfe im Volksbildungsministerium, Eberhard Mannschatz, ist zu keiner Stellungnahme bereit. Er erklärt lediglich: Zwangsadoptionen habe es in der DDR nicht gegeben.

Keiner der Verantwortlichen wird nach der Wende vor Gericht gestellt. Im Einigungsvertrag ist das DDR-Recht anerkannt worden, die Täter haben demnach keine Gesetze gebrochen. Mit Ausnahme der Todesschüsse an der Mauer. Sie werden als schwere Menschenrechtsverletzung gewertet. Zwangsadoptionen nicht. Laut gültigem BGB ist auch heutenoch die Entziehung des Sorgerechts bei “staatsfeindlicher Beeinflussung“ möglich. Bisher gibt es aber kein einziges Urteil, das ein Kind aus diesen Gründen in öffentliche Obhut brachte.

Enrico heißt jetzt Florian, ist in Sachsen aufgewachsen und lebt jetzt in Bayern. Nach 22 Jahren haben sich Mutter und Sohn, nachdem ihr Brief endlich weitergeleitet wurde, bisher erst zweimal gesehen. Das Zusammenwachsen ist schwierig. Die DDR hat sie getrennt. Petra Köhler ist heute Mutter von vier Kindern und lebt in der Nähe von Leipzig.